Unsere Zeitzeugen
Wir haben noch mit zahlreichen weiteren Zeitzeugen gesprochen. Hier findest du eine erste Auswahl der Mitschriften. Weitere Berichte werden nach und nach ergänzt.
Walter Albrecht
Im Oktober 1989 war Teilnehmer einer DGB-Delegation beim FDGB der DDR in Leipzig. Bei dieser Gelegenheit habe ich an der großen Demo der Hunderttausend auf den Straßen Leipzigs teilgenommen. So war ich bei der friedlichen Wende dabei, eher als Privatperson, nicht als Vertreter der GdED. Es war ein unvergessliches Erlebnis. Leider kann ich mich an spezifische Details und an Gespräche nicht mehr erinnern.
Klaus Amberger
Meine Erinnerungen an den Herbst 1989 und die Zeit bis zur Wiedervereinigung
(Chronik des Wendejahres 1989)
August 1989 – Botschaftsflüchtlinge in Prag, Warschau und Budapest
1. Oktober 1989 – Botschaftsflüchtlinge aus Warschau – Überwachung Durchfahrt in Köpenick
4. November 1989 - Großdemonstration in Berlin Alexanderplatz
7. November - Regierung u. Ministerrat treten zurück
8. November - Politbüro tritt zurück
9. November 1989 - Grenzöffnung
11. November - Abriss der Mauer beginnt in der Bernauer Straße
1. Dezember – Verfassungsänderung – Führungsanspruch der SED gestrichen
3. Dezember – Krenz tritt zurück
7. Dezember – Runder Tisch
8. Dezember – Generalstaatsanwalt leitet Ermittlungsverfahren gegen Honnecker u. weitere
Führungspersonen ein
19. Dezember – Helmut Kohl besucht Dresden
22. Dezember – Brandenburger Tor wird geöffnet
03. Oktober 1990 – Beitritt der DDR zur BRD
Ausgangssituation:
Seit 1971 war ich als Betriebsingenieur Anlagen im Reichsbahnamt Berlin tätig. In dieser Funktion war es meine Aufgabe, den Leiter des Reichsbahnamtes in allen Fragen des technischen Betriebsdienstes für den Hochbau und Tiefbau, den Oberbau und Brücken, die Signal- und Fernmeldetechnik zu beraten und in der Zusammenarbeit mit den technischen Verwaltungen und örtlichen Dienststellen zu unterstützen.
In diese Funktion wurde man vom Präsidenten der Reichsbahndirektion berufen und war damit dem Leiter des Reichsbahnamtes alleine unterstellt.
Verantwortlich war der Bing Anlagen u.a. auch für die Baubetriebsplanungen, er hatte mit den Leitern der technischen Dienststellen im Amtsbezirk, hier 6 Bahnmeistereien (Schöneweide, Ostbahnhof, Pankow, Basdorf, Lichtenberg, Rummelsburg), dem Oberbauwerk Köpenick, der Hochbaumeisterei Ostkreuz und der Signal- und Fernmeldemeisterei Schöneweide monatliche Sicherheitsberatungen durchzuführen.
Diese Funktion verlangte außerdem die Teilnahme an den Leitungs- und Unfallbereitschaften im Bezirk sowie die Übernahme von Aufgaben als „Diensthabender Leiter“ in besonderen Situationen. Im besonderen Fällen war auch die Leitung des so genannten „Arbeitsstabes“ wahrzunehmen. Dies trat besonders häufig im Winter und bei anderen Ausnahmesituationen ein.
Schaut man sich die Struktur der ehemaligen Reichsbahnämter an, dann fällt dem Betrachter auf, dass neben den rein fachlichen Aufgabenbereichen (z.B. Fachabteilungen Betriebstechnik, Güterverkehr, Personenverkehr, Hauptbuchhaltung etc.) eine Reihe von Funktionen angegliedert waren mit merkwürdigen Attributen, die bei genauerer Betrachtung nicht mit den originären Aufgaben vereinbar waren.
So gab es beispielsweise eine Abteilung I, für die entgegen der Gepflogenheiten keine offizielle Arbeitsanweisung zu finden war. Diese Abteilung pflegte u.a. die Kontakte mit den militärischen Behörden und mit der sowjetischen Transportkommandantur in der Reichsbahndirektion zur Durchführung von Truppentransporten und für weitere Aufgaben die mir nicht bekannt waren, weil ich als Betriebsingenieur keinen Zugang zu diesen geheimsten Missionen hatte.
Es gab auch eine Funktion mit der Bezeichnung „Chef des Stabes“ mit mehreren Vertretern und Mitarbeitern, hört sich tatsächlich schon sehr militärisch an, deren Arbeitsaufgaben nicht so bekannt waren.
Ganz und gar mystisch wurde es bei der Politischen Abteilung. Sie bestand in jedem Reichsbahnamt und hatte bei uns neben einem Leiter und Stellvertreter, zehn so genannte Politinstrukteure. Mit ihnen und ihrer Bedeutung hatte ich gleich zu Beginn meiner Karriere eine ernsthafte Bekanntschaft machen müssen, die ich an dieser Stelle wiedergeben möchte.
Mit 31 Jahren bei meiner Berufung zum Bing A war ich noch jung und ungestüm, ohne Erfahrungen im Umgang mit dem politischen Establishment der DDR. Deshalb verhielt ich mich so, wie ich es tat. „Ein Schreiben vom Leiter der Politischen Abteilung, an mich persönlich adressiert, flatterte alsbald nach meiner Berufung auf meinen Schreibtisch. An den Genossen Betriebsingenieur, Klaus Amberger; „Lieber Genosse Klaus .....“ – „Wir beauftragen Dich hiermit über den Zustand der baulichen Anlagen im Bezirk des Reichsbahnamtes schriftlich zu berichten“ - usw. Ich war tief empört. Unmittelbar setzte ich ein Antwortschreiben auf, in dem ich darauf hinwies, dass ich gerne wüsste, seit wann ich denn ihr Genosse sei und dass ich sie darauf hinweise, dass ich gerne mit „Sie und Herr Amberger“ angesprochen werden möchte und Aufträge ausschließlich von meinem dienstlichen Vorgesetzten, dem Leiter des Reichsbahnamtes, entgegennehmen würde. Die Reaktion erfolgte prompt. Einen Tag später hatte ich eine Vorladung zur außerordentlichen Sitzung der Politischen Abteilung. Eine kurze Rücksprache bei meinem Chef dazu verlief in tiefgekühlter Atmosphäre und brachte mir Klarheit darüber, wer hier das eigentliche Sagen hatte. Also folgte ich der Vorladung ohne weiteren Widerspruch, aber mit weichen Knien und einem großen Kloß im Hals.
Im großen Versammlungsraum dieser Abteilung saß das Tribunal schon bereit. Versammelt war die gesamte Mannschaft der Politischen Abteilung, bestehend aus zwölf Mitgliedern, Leiter, Vertreter und Politinstrukteure mit versteinerten Mienen. Mir wurde der freigehaltene Platz an der Stirnseite des riesigen Tisches angewiesen. In der folgenden Befragung durch die politische Inquisition und der Aussprache war ich nun ausgesprochen kleinlaut. Insgesamt dauerte dies etwa eine Stunde. Danach war ich zwar immer noch kein Mitglied der Partei, aber über deren führende Rolle aufgeklärt und geläutert. In Zukunft würde ich mich also um meiner selbst willen nie mehr gegen die Partei offen auflehnen. Ich hatte das Funktionsprinzip jetzt verinnerlicht. Erstaunlicherweise hatte der Vorfall, den ich selbst herbeigeführt hatte, für mich keine weiteren Konsequenzen.“
Erklärend sei gesagt, die Politische Abteilung beim Reichsbahnamt war im Prinzip dasselbe wie eine Kreisleitung der SED auf bezirklicher Ebene. Diesen Funktionären gegenüber waren alle so genannten „Staatlichen Leiter“ der Deutschen Reichsbahn verpflichtet. Verpflichtet waren sie weiterhin gegenüber dem Ministerium für Staatssicherheit. Bei uns war ein solcher Mitarbeiter allgegenwärtig, der sich uns mit dem Namen Rudi Böhm vorstellte. Wir wussten natürlich, dass dies nicht sein wirklicher Name war. Er nahm auch an allen wichtigen Beratungen als stiller Zuhörer teil. Außerdem mussten alle Berichte, zu deren Fertigung jeder der Teilnehmer je nach Tagesordnung verpflichtet wurde, in einer Ausfertigung nach offizieller Verteilerliste vorher auch an diesen Mitarbeiter mit einer Adresse in der „Ruschestraße“ versendet werden. Er kam zuweilen in mein Büro, fragte freundlich nach dem Befinden und fing ein unverfängliches Gespräch an. Er erkundigte sich beiläufig nach der Familie und nach fachlichen Dingen.
Vorsicht war schon angebracht, denn er war von anderen Seiten immer recht gut informiert. Rudi wollte er genannt werden und er fand es selbstverständlich, mich ebenso mit meinem Vornamen anzusprechen.
Als im Herbst des Jahres 1989 immer klarer wurde, dass das Unmögliche, doch möglich würde, spürte ich in allen Dienstberatungen die Nervosität der Leitung des Reichsbahnamtes, der Parteigenossen und der politischen Mitarbeiter.
Nachdem der Außenminister und Vizekanzler der Bundesrepublik Hans Dietrich Genscher in den Abendstunden des 30. September 1989 den Botschaftsflüchtlingen in Prag die Nachricht überbrachte, dass ihre Ausreise genehmigt sei, war der Damm gebrochen und führte dazu, auch den anderen Verzweifelten die in den Botschaften der Bundesrepublik Deutschlands in Warschau und Budapest ausharrten, Hoffnung zu geben.
1. Oktober 1989 – Der Zug mit den Botschaftsflüchtlingen aus Warschau
Ein Sonntag, an dem ich vom Diensthabenden der Reichsbahndirektion während meiner Leitungsbereitschaft am zeitigen Vormittag zu Hause einen Auftrag erhielt, für einen Zug aus Warschau mit Botschaftsflüchtlingen, der über Berlin führte, einen Begleiter bereitzustellen, der den Zug bis zur Übergabe in Helmstedt über Westberlin begleiten durfte. Das war sehr schwierig, weil nur einzelne Kollegen die erforderlichen Genehmigungen hierfür besaßen.
Nun rollte bei mir die ganze Palette meiner Organisationskunst an und ich blockierte stundenlang mein häusliches Telefon. Mir war klar, dass mich in meiner Verantwortung niemand unterstützen würde und mir fiel im Augenblick nur der Vertreter meines Chefs ein, der eine solche Genehmigung besaß.
Ich konnte nur hoffen, ihn zu Hause auch zu erreichen um ihn zu bitten diese Sache zu übernehmen, er hatte ja keine Bereitschaft. Es hat geklappt, er sagte zu. Er sollte also spontan zum Grenzbahnhof Slubice in Polen fahren, den Zug dort übernehmen und ihn bis Helmstedt begleiten.
Ich konnte zunächst erleichtert aufatmen, ein Problem war gelöst. Zu organisieren war außerdem, dass alle Bahnhöfe und Stellwerke an der gesamten Strecke mit Kontrollkräften für die pünktliche und sichere Durchführung des Zuges zu besetzen waren. Dieser Zug sollte sicher, pünktlich und ohne politische Demonstrationen von Warschau bis nach Helmstedt gefahren werden. Solche Aktionen von zu Hause aus zu organisieren, machten unendlich viele Schwierigkeiten und setzten mich unter stundenlangen Stress. Übrig blieb auch immer die Furcht, für Dinge, die man nicht erfolgreich umsetzen kann, zur Verantwortung gezogen zu werden.
Für mich selbst blieb der Bahnhof Köpenick übrig. Ich fand mich also rechtzeitig vor der Verkehrszeit des besagten Zuges beim Fahrdienstleiter des Bahnhofs Köpenick ein. Die Genossen von der Staatssicherheit waren schon vor mir dort. Die sollten u.a. auch ausschließen, dass es an der Strecke von den Beschäftigten der Bahn Kundgebungen durch Winken o.ä. und bei möglichen außerplanmäßigen Halten keine zusätzlichen Mitfahrer gab. Auch unzählige Polizisten der kasernierten Transportpolizei belagerten das Gelände ringsum.
Die Verkehrszeit des Zuges war nur mir von der Direktion mitgeteilt worden. Auch unsere Betriebsleitung (Dispatcherleitung) kannte die Verkehrszeiten nicht. Alles war sehr geheim. Mein Auftrag war es außerdem, für die betrieblichen Handlungen des Fahrdienstleiters bei der Durchführung der Zugfahrt Verantwortung zu tragen, jede Fehlhandlung zu verhindern sowie keinen außerplanmäßigen Halt zuzulassen. Der Fdl. musste vor jeder betrieblichen Handlung mein Einverständnis einfordern.
Dann kam der Zug von Erkner angefahren, er war lang, ich glaube mich zu erinnern, dass er aus 12 Wagen bestand und mit einer Diesellok bespannt war. Die Durchfahrt durch den Bahnhof Köpenick verlief zu meiner Erleichterung ohne Probleme. Ich konnte ihn vom Fenster des Stellwerkes aus beobachten, sah dass er sehr voll war und die Menschen aus den Zugfenstern tatsächlich mit Tüchern winkten und über die gelungene Ausreise aus der DDR allen ihre Freude mitteilen wollten. Auch ich hätte so gerne gewunken und ihnen viel Erfolg gewünscht, musste mir das aber verkneifen.
Fotos oder Aufschreibungen konnte ich nicht machen, schließlich wurde auch meine Anwesenheit beobachtet. Später habe ich erfahren, der Stellwerkswärter des anderen Stellwerkes in Köpenick „Ko“, hätte doch gewunken und musste sich deshalb dafür verantworten. Ich weiß aber nicht, wie die Geschichte ausgegangen ist.
Noch immer sollte die DDR gerettet werden und man reagierte entsprechend auch in unserem Reichsbahnamt.
10. Oktober 1989 – Anleitung Beauftragte
Zur Erklärung: Diese Form der Nebentätigkeit von Leitenden Mitarbeitern des Reichsbahnamtes galt der zusätzlichen Überwachung der Arbeit und der Leistungserfüllung von einzelnen Dienststellen im Amtsbezirk. Mir war der Rangierbahnhof Wuhlheide zugewiesen worden und später auch der Bahnhof Ahrensfelde.
Hier wurde man in einem perfiden System verantwortlich gemacht für die Ergebnisse der Arbeit dieser Dienststellen und musste sich für deren schlechte Leistungen verantworten. In meinen Aufschreibungen aus den Dienstbesprechungen in dieser Zeit habe ich z.B. diese vom 10. Oktober 1989 gefunden, die deutlich macht, wie angespannt die Situation war.
Es ging offensichtlich große Angst vor einer Revolution um, vor einer blutigen Abrechnung. Interessant ist bereits die Reihenfolge der Beiträge, zuerst vom Politleiter und erst danach vom Leiter des Reichsbahnamtes. Gesprochen wurde von Erscheinungen der Konterrevolution und vom Einsatz von Eisenbahnern zur Unterstützung der Schutz- und Sicherheitsorgane. Die ständige Erreichbarkeit von leitenden Mitarbeitern des Reichsbahnamtes und der Leiter der Bahnhöfe wurde angeordnet, zusätzlich war die durchgehende Besetzung mit einem diensthabenden Leiter im Reichsbahnamt angeordnet.
4. November 1989 – Dienstberatung des Leiters des Reichsbahnamtes
Im Vorfeld zur Großdemonstration vom Samstag wurde in der Dienstberatung tatsächlich vor einer Teilnahme daran ausdrücklich gewarnt und personelle Konsequenzen angedroht wurden, teilweise mit entsetzlichen Bedrohungen und Beschimpfungen bedacht. Einige Genossen ereiferten sich sogar, den Gebrauch von Waffen zu empfehlen.
Trotzdem hatte ich das Gefühl, ich muss dahin, ich muss endlich auch etwas tun. Die Sache war weit ortgeschritten und hat mir Mut gemacht. Ich fasste allen Mut zusammen und machte mich auch auf den Weg. Auf dem Bahnhof Alexanderplatz traf ich den Vertreter des Leiters, der allerdings nicht an der Demo teilnehmen wollte, sondern die Lage der S-Bahn bei diesem Andrang im Auge hatte. Ich versuchte mich so vorbeizudrücken, wollte nicht von ihm gesehen werden. Angst war tatsächlich mein Begleiter. Ich trieb in der Masse mit nach unten und mitten hinein in die Großkundgebung.
Das war ein Gefühl, welches mir noch immer schwerfällt, zu beschreiben. Auf jeden Fall war es ein außerordentlich emotionales Gefühl. Die Reden auf dem Alexanderplatz am Vormittag des 4. November 1989 waren so beeindruckend, sie trafen den Nerv der vielen tausend Menschen, der Beifall war grandios. Besonders die Rede der Schauspielerin Steffi Spira hatte große Wirkungen auf die Anwesenden. Während ihrer kurzen Rede zitierte sie Brechts "Lob der Dialektik" und sagte dann noch: "lch wünsche für meine Urenkel, dass sie aufwachsen ohne Fahnenappell, ohne Staatsbürgerkunde, und dass keine Blauhemden mit Fackeln an den hohen Leuten vorübergehen".
Offenbar zeigte diese Demonstration ungeahnte Wirkungen, denn bereits drei Tage danach, am 7. November traten Regierung und Ministerrat zurück und am 8. November das Politbüro. Das hatte auch auf die Genossen im Reichsbahnamt nicht ihre Wirkung verfehlt, denn bereits in der folgenden Dienstberatung gab es nun keine Drohungen mehr gegen die eigenen Mitarbeiter, sondern es wurden adäquate Konsequenzen verkündet.
9. November 1989 - 16,15 Uhr - „Forum“
Diesen Begriff für eine Dienstberatung gab es bisher noch nie, die Ergebnisse verblüffend.
- Partei- und Gewerkschaftsarbeit darf nur noch außerhalb der Arbeitszeit stattfinden
- AG sozialistische Wehrerziehung wird ausgesetzt
- Kreisparteischule wird ausgesetzt
- Änderungen in der Stellung der Politischen Abteilungen in RBD und Rba wurden erörtert
Am Abend dieses Donnerstags saß meine Familie zu Hause als im Westfernsehen die Pressekonferenz des Günter Schabowski zum neuen Reisegesetz übertragen und die legendäre Antwort Schabowskis auf die Frage eines Reporters gestottert vorgetragen wurde, „das gilt sofort – unverzüglich“.
Ja, was sollte man nun davon halten, habe ich so bei mir gedacht, sie lügen doch, wenn sie den Mund aufmachen. Und so haben wir, meine Frau und ich, den Worten keine unmittelbare Bedeutung zugemessen, anders als viele andere Bürger und auch ein großer Teil meiner Kollegen, wie ich spätestens am folgenden Morgen im Büro feststellen konnte.
10. November 1989
An diesem Freitagmorgen war eine große Aufregung im Büro und an Arbeit war zunächst nicht zu denken. In Gruppen standen die Kollegen, um ihre neuesten Abenteuer auszutauschen. Ich war zunächst total überrascht, was sich in der Nacht zugetragen hatte. Tatsächlich hatten wir die Nacht der Nächte, möglicherweise eine historische Nacht, verschlafen. Ein überwiegender Teil der Belegschaft hatte anders als ich, die Botschaft von gestern so verstanden, wie sie offensichtlich gemeint war und sich aufgemacht, die Nacht auf dem Weg nach Westberlin zu verbringen. Jeder auf seine besondere Weise. Selbst ein ganz treuer Genosse der Partei, berichtete zu meinem Erstaunen über seine nächtlichen Erlebnisse in Westberlin, er war von dort erst am Morgen direkt in das Büro zurückgekehrt.
An eine regelrechte Arbeit war an diesem Freitag kaum zu denken. Von der Leitungsebene des Amtes war nichts zu vernehmen. Ich vermute, sie haben den ganzen Tag zusammengesessen, um die Konsequenzen und politischen Schlussfolgerungen für sich und das Gefüge zu besprechen. Von nun an, war nichts mehr, wie es war. Für den Abend hatten wir lange vorher anlässlich unseres Hochzeitstages in einer Gaststätte in der Bölschestraße in Friedrichshagen einen Tisch bestellt und konnten voller Unruhe den Fortgang unseres Essens kaum erwarten. Unser Abendessen war von innerer Unruhe geprägt, wir beendeten es alsbald und fuhren spontan mit unserem Auto (Wartburg) zur Grenze nach Baumschulenweg. Mit unserem jüngsten Sohn war der Grenzübertritt in unserem Auto ein unbeschreibliches Erlebnis, was sich aber im Wesentlichen mit denen vieler Menschen deckt, nur waren wir fast 24 Stunden später dran. Aber noch immer gab es dieselben Szenen dort.
Den Weg durch Westberlin bis nach Dahlem zur Wohnung meines Bruders kannte ich nach so vielen Jahren natürlich nicht mehr, auch wenn ich zwischenzeitlich einmal dort zu Besuch gewesen bin. So haben wir uns dann auch tüchtig verfahren und uns an einer Tankstelle erst einmal einen Stadtplan geben lassen.
Es ist ein langer Tag geworden. Der Junge musste trotzdem am Samstag früh in die Schule. Im Bewusstsein, dass sich nun die Situation zwischen den beiden deutschen Staaten grundlegend ändern würde, kehrten wir zurück nach Hause.
11. November 1989
Der Abriss der Berliner Mauer beginnt an der Bernauer Straße
Für mich ein emotionales Ereignis, denn unmittelbar hinter dieser Mauer befand die Grabstelle meines Vaters, welche wegen der Grenzbefestigungen im März 1967 weichen musste. Unter Bewachung von Grenzsoldaten wurden die Gräber geöffnet die Särge geborgen und die Toten in bereitstehende Särge umgebettet. Jahre später habe ich diese Szene zufällig in einer RBB Sendung gesehen.
Die Ereignisse im Betrieb waren verblüffend. Zunächst war völlige Ratlosigkeit und Funkstille, dann Aktionismus in unerwarteter Art. Der Amtsvorstand und verschiedene Abteilungsleiter bekannten sich spontan zum Austritt aus der SED. Funkstille herrschte nur aus der noch immer existierenden Politischen Abteilung. Ab und an sah man einen dieser früher so stolzen und selbstbewussten Mitarbeiter, gesenkten Hauptes über den Flur schleichen. Was taten sie nun während des langen Tages eigentlich? Vielleicht räumten sie ihre Schreibtische auf.
Plötzlich war niemand mehr mit dem Parteiabzeichen am Revers zu sehen. Man war doch so stolz darauf gewesen. In den Büros sind die großformatigen Bilder mit dem Konterfei des geliebten Vorsitzenden Erich H. verschwunden. Wurden sie vernichtet oder vielleicht sicherheitshalber aufbewahrt, weil man ja nie wissen konnte, ob er nicht vielleicht doch….?
Weil in meinem Büro kein Platz an der Wand gewesen ist, hing auch kein Bild dran, brauchte ich auch keines zu entfernen. Nun muss ich mich auch nicht mehr dafür rechtfertigen. Wir wandten uns wieder unserer täglichen Arbeit zu, der Betrieb duldete keine Unterbrechungen.
Ein ganze Woche Leitungsbereitschaft folgte für mich. Es gab ja dann nur die Möglichkeit zu Hause am Telefon zu verharren und auf einen Anruf zu warten. Er kam dann auch, am 23. November gegen 5,30 Uhr wurde ich geweckt und musste mich unmittelbar nach Königs Wusterhausen begeben, denn dort sei der Personenzug 5830 mit 4 Wagen in der Weiche 67 im Bezirk „Kwm“ entgleist. Meine Verantwortung zur Leitung an der Unfallstelle, zur Ursachenfindung, zur Aufgleisung und Beräumung sowie zur Beseitigung der Unfallschäden. In meiner Ergänzungsmeldung an die Dispatcherleitung um 8,20 Uhr habe ich den Abschluss aller Arbeiten bis 19 Uhr eingeschätzt. Das habe ich auch eingehalten, denn bereits um 14,14 Uhr konnte der Fahrstrom wieder eingeschaltet und die Unfallstelle freigegeben werden. Etwa 30 Arbeitskräfte waren im Einsatz. Als Ursache war eine sperrende Weichenzunge festgestellt worden. Personenschaden gab es nicht, die Fahrgeschwindigkeit war ohnehin im Bezirk „Kwm“ wegen bestehender sicherungstechnischer Mängel dieses WSSB-Gleisbildstellwerkes der ersten Bauform herabgesetzt.
Die täglichen Nachrichten und Entwicklungen blieben weiter spannend und hatten selbstverständlich Auswirkungen auch auf unsere Arbeit. Ich erinnere mich daran, wie viele Mitarbeiter unseres Hauses, aber auch andere aus dem Bezirk, mit denen ich ständige Arbeitskontakte hatte, mit mir das Gespräch suchten, als sollte ich ihnen Absolution erteilen. Das konnte ich nicht, hätte das auch nicht gewollt. Sie alle haben mich die ganzen Jahre über spüren lassen, dass ich nicht zu ihnen gehöre. Sie müssen nun selbst damit klarkommen. Unsicherheit, über das was kommen wird, bestimmte solches Verhalten.
1. Dezember 1989 - 12,30 Uhr - Dienstberatung des Leiters des Reichsbahnamtes
Erste personelle Konsequenzen werden bekannt gemacht. Das betrifft die Auflösung der Politischen Abteilung beim Reichsbahnamt, verbunden mit der Umsetzung von zunächst acht Mitarbeitern dieser Abteilung auf verschiedene Dienstposten im Bezirk.
Die Funktion des Vertreters des Leiters des Reichsbahnamtes für die S-Bahn (2.Vertreter des Amtsvorstandes) wird ersatzlos gestrichen, die Aufgaben übernimmt der Vertreter des Amtsvorstandes.
Weitere Veränderungen in der Personalstruktur werden bekanntgegeben. Bekannt gegeben werden auch die Namen von acht Mitarbeitern der bisherigen Politischen Abteilung und ihre Versetzung auf Dienststellen des Bezirkes. Bemerkenswert war der Umstand, dass ein Mitarbeiter sogar zum Leiter des Rangierbahnhofs Wuhlheide emporstieg. Die entsprechenden Namen und ihre künftigen Einsatzorte sind mir als Mitschrift aus der Dienstbesprechung bekannt. Bekannt gegeben wurde außerdem, dass ab 01. Dezember täglich 7 Zugpaare aus der DDR nach Westberlin fahren werden.
14. Dezember - 9,00 Uhr - Dienstbesprechung des Leiters des Reichsbahnamtes
Erneut werden eine Reihe wesentlicher Um- und Neubesetzungen im Haus und im Amtsbezirk bekanntgegeben, deren wesentlichste sich mit den Personalien von Mitarbeitern der Politischen Abteilungen aus den Ebenen der Hauptverwaltung der DR, der Reichsbahndirektion Berlin und unseres Hauses befassen.
Der Leiter der bisherigen Politischen Abteilung beim Reichbahnamt wird zum Vertreter des Leiters des Reichsbahnamtes für den Bereich Ökonomie bestellt. Eine bisher nicht vorhandene Funktion, extra für seine Person neu geschaffen. Er behält seine bisherige Gehaltseinstufung, die sich oberhalb der neu geschaffenen Funktion befindet.
Ein tragisches Ereignis in dieser Zeit, ausgerechnet in meiner Bereitschaft möchte ich noch hinzufügen. Am 17. Dezember wurde ich zu einem tödlichen Arbeitsunfall eines Fahrdienstleiters nach Blankenburg gerufen. Um 5,43 Uhr war dieser Fahrdienstleiter auf dem Weg zum Dienst direkt vom S-Bahnsteig über die Fernbahngleise im Streckenkilometer 8,6 von einer Lok überfahren worden, die von Abzweig Karow Ost zum Rangierbahnhof Pankow unterwegs war. Der Fahrtenschreiber der Lok wies eine Geschwindigkeit von 80 km/h aus. Man mag sich vorstellen, wie die Unfallstelle ausgesehen hat.
Er war 52 Jahre alt und Vater von 3 Kindern, Fahrdienstleiter seit 1966. Für mich ist ein so tragischer Unglücksfall, bei dem ein mir bekannter Kollege sein Leben verliert emotionaler, als viele andere persönliche Unfälle. Er hat einen tragischen Fehler begangen, indem er sich den Weg abkürzte, anstatt den vorgeschriebenen Dienstweg zu benutzen. Im Büro des Bahnhofvorstehers haben wir gemeinsam mit der Arbeitsschutzinspektion die Personalakten des Fahrdienstleiters gesichtet, um zu ermitteln, ob alle vorgeschriebenen Belehrungen im Arbeitsschutz eingehalten worden sind. Erst gegen 9 Uhr wurde sein Leichnam vom Bestatter abgeholt.
Unser Dienstgebäude befand sich in der Frankfurter Allee 212, nebenan der Entwurf- und Vermessungsbetrieb der Deutschen Reichsbahn in der Frankfurter Allee 216 am Bahnhof Berlin
Lichtenberg. Wir waren so gesehen in kurzer Nachbarschaft zur Zentrale der Staatssicherheit in der Frankfurter Allee / Ecke Ruschestraße. So erschienen in unserem Standort im Verlauf des Dezember 1989 und Januar 1990 täglich zahlreiche Leute von schräg gegenüber, um sich nach Arbeitsmöglichkeiten bei uns zu erkundigen.
Die Deutsche Reichsbahn war plötzlich in der unglaublichen Situation, dass sich Leute um jahrelang unbesetzte Stellen rissen, die damals noch im Überfluss vorhanden waren. Was für Leute? Sie, die uns vierzig Jahre lang bespitzelt und drangsaliert hatten, welche Ironie der Geschichte?
Ich erinnere mich, dass eigens hierfür durch meinen Chef Informationsversammlungen zu möglichen Einstellungen im großen Beratungsraum mit etwa jeweils 80 bis 100 Teilnehmern in der Woche mehrmals durchgeführt wurden. Die Interessenten wurden mit den nötigen Informationen versorgt, zu den örtlichen Dienststellen weitergeleitet, weil sie ja dort auch eingestellt werden sollten. Ein großer Teil wurde als Rangierarbeiter und für ähnliche Tätigkeiten eingestellt. Ein anderer Teil hatte sich aber den Übergang anders vorgestellt und ließ sich nach der ersten Einführung nicht mehr blicken. Sie hatten gedacht, sich in unseren Büros breit machen zu können. Sollte man diese Herangehensweise kritisieren? Schließlich haben doch alle Bürger bei der Demonstration am 4. November gerufen „Stasi in die Produktion“
Mit Interesse habe ich ihren durch ihre bisherige Tätigkeit erworbenen Habitus beobachtet. Die einst so selbstbewussten Mitarbeiter des MfS, ausschließlich Männer im jüngeren und mittleren Alter, hatten ihren aufrechten Gang verloren. Sie waren verunsichert. Das zu beobachten war mir eine Genugtuung, aus der Sicht ihres bisher geübten gnadenlosen Handelns.
Peter Bahr
1989 war ich in der Generalvertretung Personenverkehr in Münster tätig und für die Region westliches Münsterland zuständig.
Meine Geschichte spielt einige Tage vor der Wende. Bereits am 27. Juni 1989 durchtrennten die Außenminister von Österreich und Ungarn den Grenzzaun zwischen ihren Ländern. Urlauber aus der DDR nutzten die Gelegenheit und gingen zu Fuß über die Grenze nach Österreich.
Am 21./22.08 fuhr der erste Botschaftszug mit etwa 400 DDR-Bürgern von Wien nach Münster, von dort ging es weiter nach Schöppingen. In Schöppingen war wenige Wochen vorher eine belgische Kaserne geräumt worden. Diese wurde schnell umfunktioniert zu einem Erstaufnahmelager. Von dort sollten die Menschen so schnell wie möglich auf die ganze Bundesrepublik verteilt werden.
Am Abend des 21.08.89 erhielt ich einen Anruf meines Chefs, dort ein „Reisezentrum zu eröffnen. In meiner Tätigkeit als Kundenbetreuer betreute ich auch einige Reisebüros, die als DB – Agenturen arbeiteten. Aufgrund meiner persönlichen Kontakte konnte ich diese überzeugen, sofort mit anzupacken und noch am Wochenende eine „Zweigstelle“ in Schöppingen zu eröffnen. Auch die Bundesregierung machte eine amtliche Zweigstelle auf, um die Menschen mit den erforderlichen Papieren auszurüsten.
Am 23.08.89 waren wir startklar, wenn auch alles manuell erstellt werden musste. Auskunft, Beratung, (kostenloser) Fahrschein, alles konnten wir erledigen und auch noch „Gute Reise und viel Glück“ wünschen.
Die Menschen aus der DDR hatten meist spontan die Grenze gewechselt, sie hatten kein Gepäck und keine weitere Ausstattung dabei. Es wurde alles organisiert. Was fehlte, wurde irgendwie beschafft.
Jeder Mensch, der Verwandte hatte, sollte dorthin fahren. Alle anderen standen etwas ratlos vor der Landkarte der Bundesrepublik Deutschland. Im Geographie-Unterricht der DDR wurde wenig über die Bundesrepublik gesprochen. Manche wussten zunächst nicht, wo sie hinfahren sollten. Sie durften sich ihr Ziel aussuchen, bei der Entscheidung habe ich sie unterstützt und erzählt, wie es in den verschiedenen Regionen aussah und was sie DDR-Bürger dort vorfinden würden. So durfte ich oft bei Lebensentscheidungen wie „Lörrach“ oder Eckernförde“ mitwirken.
Beeindruckend war, dass ALLE mitgewirkt haben. Es herrschte Kollegialität und Aufbruchstimmung.
Bernd Biedermann
Magdeburg, 23. Oktober 1989, früher Abend:
„Schatz, ich schaue mal kurz zum Dom“, rief ich meiner in der Küche hantierenden Frau zu, während ich eine Flasche Rosenthaler Kadarka, ein sehr lieblicher Rotwein, den es meist nur als Bückware gab, entkorkte. Wir wollten am Abend etwas kuscheln, weil ich am nächsten Tag zu einem dreitägigen Lehrgang für Prüfingenieure reisen musste.
Der Dom ist nur einen Katzensprung von unserer Wohnung entfernt, da bin ich schnell wieder zurück - dachte ich.
Als ich dort ankam, staunte ich über die vielen Menschen, die sich hier versammelt hatten. Den Plan, ins Innere des Gotteshauses zu gelangen, musste ich aufgeben. Dank Lautsprecher bekamen wir Hunderte auch draußen mit, dass an jenem Abend in Magdeburg die erste Großdemo stattfinden sollte.
In Plauen, Leipzig, Berlin und in Karl-Marx-Stadt waren bereits Hunderttausende auf die Straße gegangen, um gegen die SED zu protestieren, die sich 40 Jahre lang das Recht einer absoluten Herrschaft über uns DDR-Bürger angemaßt hatte.
Nun war es auch in meiner Heimatstadt so weit – endlich!
Magdeburgs Wahrzeichen als Ausgangspunkt war kein Zufall: Seit Mitte September fanden hier regelmäßig Montagsgebete statt, an denen von Woche zu Woche mehr Menschen teilnahmen.
Nach dem Schlusswort des Dompredigers Giselher Quast strömten die Massen hinaus. Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass in der Kathedrale Platz für so viele Menschen ist. Weit im hinteren Viertel des Demonstrationszuges reihte ich mich ein. Obwohl meine bessere Hälfte zu Hause bestimmt schon unruhig wurde – ich musste mit, ich konnte nicht anders.
Mit etwa Zwanzigtausend marschierte ich schweigend über Wilhelm-Pieck-Allee, Otto-von-Guericke-Straße und Danzstraße, mit einem mulmigen Gefühl, denn ich hatte am späten Nachmittag beobachtet, wie eine Kampfgruppeneinheit sich in der Schulaula einquartierte.
Zurück am Dom warf ich noch einen Blick auf das riesige Lichtermeer der abgestellten Kerzen - und sprintete nach Hause.
Meine Frau war wie erwartet sauer - dafür hatte der Rosenthaler Kadarka seine volle Süße entfaltet.
Aufgewühlt berichtete ich Uschi von meiner Gänsehaut beim Schweigemarsch, von den Menschenmassen, von der Aufbruchsstimmung. Und von nun an war meine Frau dabei.
Und plötzlich war alles anders …
… plötzlich hatten wir trotz unserer Erziehung in der DDR jetzt mehr Mut und weniger Angst.
Und plötzlich war alles anders …
… plötzlich gab es trotz des feucht-kalten Wetters jede Menge Wendehälse. Und dies, obwohl die Vögel bereits Mitte August gen Süden ziehen und nicht vor Ende März zurückkehren.
In der Abteilung Bahnaufsicht der Reichsbahndirektion Magdeburg war nicht unerwartet der SED-Parteisekretär ein besonders großes Exemplar. Nervte er uns im Oktober noch mit Zitaten aus der SED-Zeitung „Neues Deutschland“, wedelte er nach dem 9. November immer öfters mit der „Bild“ herum.
Ende September, als immer mehr DDR-Bürger über Ungarn nach Österreich flüchteten, sich die Lage in der Prager Botschaft zuspitzte, lud mein damaliger Chef seine Genossen zum monatlichen Parteilehrjahr. Obwohl parteilos interessierte es mich sehr, worüber man in der SED „diskutierte“. So fragte ich anderntags meine Kollegen. Doch alle hatten sich für diese Veranstaltung eine Ausrede einfallen lassen. Nur unser ältester Kollege war arm dran - er hatte keine.
„Herbert, was hat der Chef dir gestern erzählt?“ – „Bernd, kann ich dir nicht sagen, ich hatte mein Hörgerät abgestellt.“
Und plötzlich war alles anders …
… plötzlich wurden Unterschriftensammlungen nicht von oben, nicht von SED, FDJ und ähnlichen Gruppierungen organisiert. Wenn ich mich recht erinnere, unterschrieb ich noch vor dem 23. Oktober die Forderung nach Reisefreiheit für alle DDR-Bürger. Ich hätte wohl nie westwärts reisen dürfen, da ich die viel zitierte Westtante bis heute nicht besitze.
Ein schöner Nebeneffekt der Reisefreiheit ist für mich der wesentlich größere Radius bei Reisen mit Fahrvergünstigung für Eisenbahner. Als ich mit meiner Frau auf dem Europaradweg R1 von Nordfrankreich nach St. Petersburg radelte, musste ich oft an einen Spruch vom Magdeburger Domplatz denken: Weltanschauung kommt auch von Welt anschauen!
Denke ich heute an den Herbst 1989 zurück, kann ich die Worte der Fernsehmoderatorin Maybrit Illner bestätigen: „Die DDR war zu Ende, als sie anfing, Spaß zu machen."
Christian Bormann
Es war im Herbst 1989, ein bis zwei Tage nach DER entscheidenden Ankündigung und der vom Zettel abgelesenen Mitteilung, eines bis dahin nicht sehr bekannten Herrn (Genossen -SED) Schabowski. Der „neue grenzüberschreitende Personenreiseverkehr", im näheren Grenzbereich (da gehörte Erfurt noch dazu) wurde mit allem verfügbaren Wagenmaterial der Deutschen Reichsbahn unterstützt. Auch die Deutsche Bundesbahn schickte Züge gen Osten, um die Menge an DDR-Bürgern, die mal schnell und kurz in „den Westen" wollten, abzuholen.
Am Bahnsteig 2 des Erfurter Hbf wartete eine Riesenmenge auf solch einen angekündigten „DB-Ersatzzug". Der Bahnsteig war "schwarz" von Menschen. Überraschend fuhr der Zug mit mindestens 12 sogenannten "Donnerbüchsen" ein. Dies ist ein bestimmter Wagentyp, zugelassen für Personenzüge bis 90 km/h. Der Zug fuhr ein, die Lok drumherum, um sofort wieder gen Westen zurückzufahren.
Inzwischen wurde der Zug gestürmt und füllte sich mit wesentlich mehr Menschen als es nach angegebenen Sitzplätzen zugelassen war! Aber zu diesem Zeitpunkt und unter den „Wendebedingungen" galten „Wendebetriebsgrenzwerte- und Maße - zwischen Federbund und Langträger - musste noch eine Postkarte passen. Durchführung einer vollen Bremsprobe nach Lokbespannung wegen Gewicht, Zuglänge und Vmax - Bremshundertstel und schon ging die Fahrt Richtung Westen.
Zug fuhr raus aus dem Erfurter Hbf Gleis 2, wir schauten noch hinterher und bemerkten erst jetzt, mit Erschrecken und Entsetzen, dass auf dem Bahnsteig mindestens 10, eher 14, Kinderwagen/ Kindersportwagen über die ganze Zuglänge verteilt herumstanden. Wir, das waren die Eisenbahner, die zur Zugabfertigung damals immer am Bahnsteig notwendig waren, also Aufsicht und Wagenmeister - Zugpersonal war ja eingestiegen - eilten besorgt zu den Kinderwagen. Doch die Kinderwagen waren alle leer. Die Kinder waren offensichtlich aus Platzmangel direkt mit den Zudeckbetten in den Zug mitgenommen worden.
Die Erfurter Eisenbahner haben dann die Kinderwagen in einer Reihe, in der Mitte des Bahnsteigs, platziert. In den Folgetagen wurden diese immer weniger.
Der Anblick, der über den ganzen Bahnsteig 2 verteilten leeren Kinderwagen, ist mir bis heute als Gedankenbild immer wieder gegenwärtig. Heute noch ärgere ich mich über den damals fehlenden Fotoapparat und dass ich damals kein Fotohandy hatte, wie es heute der Fall ist.
Reiner Dietrich
1989 war ich als Zugführer auf der Strecke Hannover-Oebisfelde eingesetzt. Über Oebisfelde verkehrten sogenannte Interzonenzüge bspw. Köln–Leipzig, aber keine Transitzüge nach West-Berlin. Der Lokwechsel von Lokomotiven der Deutschen Reichsbahn zu Loks der Deutschen Bundesbahn und der Personalwechsel fand stets in Oebisfelde statt.
Das DB-Personal fuhr bis Oebisfelde mit. Als Zugführer übergab ich dem DR-Kollegen die Papiere und informierte ihn über die Besonderheiten. Es wurden nur rein dienstliche Gespräche geführt, ein weiterer Austausch fand nicht statt. „Ich glaube, die durften nicht reden.“ Auch ein Austausch mit den Grenzern fand nicht statt. Man kannte sich nur, denn es waren immer dieselben im Einsatz. Aufgefallen ist mir, dass die Reisenden bis Oebisfelde meist schweigsam waren. Erst dann fingen sie an zu reden.
Beim Grenzübergang Helmstedt-Marienborn erfolgte die Übergabe/Übernahme der Züge in Helmstedt. Hier fuhren die Transitzüge nach Berlin.
In Oebisfelde konnte ich mich auf dem Bahnsteig aufhalten und auch die Mitropa besuchen, wo ich gegen DM, Mahlzeiten zu mir nehmen konnte. Bei der Ankunft musste ich meinen Personalausweis abgeben, den ich erst bei der Rückfahrt mit dem Gegenzug wieder erhalten habe.
In der Nacht vom 08. zum 09.11.24 hatte ich dienstfrei, in den Folgetagen allerdings Dienst. Es ist mir aufgefallen, dass kaum Kinder unter den Reisenden waren. Die Züge waren übervoll. Ich erinnere mich, dass der Zug einmal so voll war, dass ich vorn auf der Lok mitgefahren bin. Es war einfach kein Platz mehr da. Eine Fahrkartenkontrolle war ohnehin nicht möglich.
Ich erinnere mich, dass in Hannover die Imbissstände von den Ankommenden gestürmt wurden. Zur Begrüßung hat man dort Bananenstände aufgebaut.
Es gibt eine Geschichte, die ich aber nicht selbst erlebt habe:
Die Züge aus der DDR hatten in Lehrte einen Betriebshalt, damit der Zoll aussteigen konnte, um den Gegenzug zu erreichen. Im Glauben, sie seien in Hannover, sollen die Menschen in Lehrte ausgestiegen sein. Die Feuerwehr musste anrücken, um die Reisenden wieder in den Zug zu bekommen.
Wolfgang Ellinger
Ich bin Jahrgang 1942. Im Herbst 89 war ich als Fdl in Helmstedt eingesetzt. Ich habe die Eisenbahn von der Pieke auf gelernt, als Jungwerker angefangen und alle Stationen durchlaufen: Rangierdienst, Güterabfertigung, Gepäck- und Expressgutabfertigung, Bahnsteigkontrolle, Bm (Rotte), Bw (Dampflok vorheizen) und vieles mehr. Fahrkartenverkauf.
Das Stellwerk in Helmstedt war 1978 das modernste Stellwerk in der Bundesrepublik, das erste Drucktastenstellwerk von Siemens. Befuhr ein Zug einen Gleisabschnitt, wurde dieser rot ausgeleuchtet.
Über Helmstedt lief der gesamte Transitverkehr nach Westberlin, Reise- und Güterverkehr. 1958 waren auf dem Bahnhof 500 Menschen beschäftigt. Das benachbarte Stellwerk der Deutschen Reichsbahn war Marienborn. Der westalliierte Interzonenbahnverkehr nach Berlin wurde ebenfalls über diesen Grenzübergang durchgeführt. Mehrmals täglich verkehrten derartige Militärzüge. Es wurden sowohl Armeeangehörige als auch schweres Gerät (Fahrzeuge, Panzer usw.) transportiert. In den letzten Jahren vor der Wende 1989 gab es den kleinen Grenzverkehr mit Nahverkehrszügen ab Helmstedt nach Marienborn bis Eilsleben.
Die Übergabe aller Züge an die DR erfolgte in Helmstedt, dort fand der Lokwechsel statt und die Kollegen der Reichsbahn übernahmen den Zug, nachdem eine umfangreiche Untersuchung der Züge stattgefunden hatte. Damit die Züge aus dem Osten an der Grenze nicht einfach durchfahren konnten, musste der Fdl in Marienborn die Weichen während der Untersuchung durch die Grenztruppen Richtung Abstellgleis stellen. Erst wenn der wachhabende Offizier die Freigabe erteilte, wurden die Weichen für die Weiterfahrt nach Helmstedt gestellt.
Private Gespräche zwischen Bundesbahnern und Reichsbahnern gab es nicht. Alle hielten sich an den vorgeschriebenen Wortlaut. Die Gespräche zwischen der BRD und der DDR wurden ausnahmslos aufgezeichnet und abgehört.
Vom 9. zum 10.11. hatte ich Nachtschicht von 20 bis 6 Uhr. Aus den Nachrichten wusste ich, dass die Grenze offen war. Es herrschte „tote Hose“ in Helmstedt, es wurden weder Züge von Marienborn angeboten, noch verkehrten welche in die Gegenrichtung.
Doch plötzlich war der Gleisabschnitt von Marienborn rot ausgeleuchtet, der klassische Fall einer Störung. Aber ich ahnte anderes. Nach 5—6 Minuten stellte ich das Einfahrsignal auf Fahrt an den Bahnsteig. Ich traute meinen Augen nicht, als ich aus dem Fenster schaute. Tatsächlich kam ein Triebwagen, ein sogenanntes Hängebauchschwein (ein Triebwagen, bei dem sich die Batterien unter dem Triebwagen befinden) langsam in den Bahnhof Helmstedt gefahren. Der Zug war ohne Fahrplan, ohne Zugnummer, ohne Vormeldung, einfach so in Marienborn losgefahren.
Alle waren überrascht, die Bahnsteigaufsicht, der Zoll, der Bundesgrenzschutz. Als der überfüllte Triebwagen zum Halten kam, stürmten die Menschen auf den Bahnsteig.
Später lief der kleine Grenzverkehr wieder vorschriftsmäßig. Die Züge waren in diesen Tagen alle überfüllt. Doch diese erste und einzige „Schwarzfahrt“ aus Marienborn werde ich nie vergessen.
Heinz-Ulrich Günther
Im November 89 war ich in meiner Funktion als Bauleiter für Planung und Durchführung für das Projekt AB 70 tätig. Die veraltete Signaltechnik zwischen Alexanderplatz und Friedrichstraße musste ausgewechselt werden. Die Bauarbeiten sollten über das Wochenende 10.-12.11. durchgeführt werden. Diese Arbeiten wurden nach der Grenzöffnung natürlich abgesagt.
Von der überraschenden Maueröffnung habe ich zunächst gar nichts mitbekommen, weil ich zu Hause Besuch hatte.
Umso überraschender war für mich die Situation am nächsten Tag. In der morgendlichen Lagebesprechung forderte der Präsident alle Leiter auf, sicherzustellen, dass der Betrieb aufrechterhalten blieb und alle Züge fuhren.
Die Eisenbahner und Eisenbahnerinnen kannten sich alle untereinander, über alle Funktionen und Arbeitsbereiche hinweg wurde kollegial zusammengearbeitet. Ich war ausgebildeter Betriebseisenbahner und Fahrdienstleiter, mein Büro des Bauleiters befand sich am Bahnhof Ostkreuz. So bat mich der Leiter des Bahnhofs um Hilfe, weil er befürchtete, dass vielleicht verschiedene Kolleginnen und Kollegen nicht zum Dienst kommen würden, sondern stattdessen lieber in den Westen fahren würden. Da wurde jede Unterstützung gebraucht. Gern bin ich eingesprungen.
An den ersten Tagen der Grenzöffnung waren unglaublich viele Menschen unterwegs, alle wollten einen Abstecher in den Westen machen. Die S-Bahn fuhr am Wochenende im Fahrplantakt des Berufsverkehrs, über die Berliner Stadtbahn ratterte die Bahn im 2-Minuten-Abstand. Alle Bahnen waren überfüllt. Weil in Friedrichstraße auf dem Bahnsteig kein Durchkommen mehr war und die S-Bahnen im Stau standen, übernahm die Dispatcherleitung nicht nur die Steuerung der Züge, sondern auch die der Menschen. Die S-Bahnen endeten zunächst im Bahnhof Alexanderplatz, dann in Warschauer Straße. Über Lautsprecher kamen die Durchsagen, in denen die Reisenden aufgefordert wurden, auszusteigen und zu Fuß weiter zur Grenze zu gehen.
Die Bahnsteige waren so überfüllt, dass es schwierig war, diese sicher über die Treppen zu verlassen. Doch die Menschen waren alle diszipliniert und friedlich, es gab keine Unmutsäußerungen oder Streitereien.
Am Wochenende wurde damals bei der Reichsbahn in 12 Stunden-Schichten gearbeitet. Die Erlebnisse in diesen beiden Schichten auf dem Bahnhof Ostkreuz sind für mich unvergesslich. Die Arbeit war anstrengend, doch es hat mir viel Spaß gemacht. Es war unglaublich, was da auf der S-Bahn los war. Die Eisenbahnerinnen und Eisenbahner aller Dienststellen haben hervorragend kooperiert und haben ihr Bestes gegeben.
„Ich kann auch in drei Wochen noch rüber“, war meine Meinung damals. Ich habe es als meine Eisenbahnerpflicht angesehen, in dieser außergewöhnlichen Situation den Dienst in Ostkreuz zu schieben, statt nach Westberlin herüberzufahren.
Jürgen Herberger
Im Herbst 1989 hatte ich Dienst in der Bundesbahndirektion Karlsruhe, zu meinem Zuständigkeitsbereich gehörte auch die Stadt Bruchsal. Als Personalwerbemanager hatte ich die Aufgabe, alle Bewerber, die sich um eine Einstellung bei der Deutschen Bundesbahn bewarben, zu betreuen.
Im Herbst 1989 endete einer der Sonderzüge mit den Menschen aus der Deutschen Botschaft in Prag in Bruchsal. Es war der 5. Oktober 1989 und 700 Personen waren in dem Zug. Die Menschen wurden in der Landesfeuerwehrschule untergebracht und vornehmlich das Deutsche Rote Kreuz war in der Betreuung der geflüchteten Familien tätig.
Eines Tages im Oktober öffnete sich die Bürotür und ein Mitarbeiter des DRK brachte (in einem VW-Bus nach Karlsruhe gekommen) alle Reichsbahnmitarbeiter herein, die mit dem Sonderzug über Hof in Bruchsal angekommen waren und nun schnellstens in eine Anstellung bei der Deutschen Bundesbahn eintreten wollten.
Obwohl die Bundesbahn im Herbst 89 einen hohen Personalbedarf hatte, wurden nicht alle Reichsbahner:innen eingestellt. Bei der Reichsbahn gab es Einrichtungen, die sich so nicht bei der Bundesbahn wieder fanden. Dazu gehörten bspw. Kindereinrichtungen, Bibliotheken, Gastronomiebetriebe usw. Die Kollegen nahmen sich der Sache an und haben viele Reichsbahner:innen mit den damaligen Dienststellen der Bundesbahn in Kontakt gebracht. Einige blieben Ihr Berufsleben lang im Dienst der Eisenbahn.
Im Herbst 89 herrschte eine große Euphorie. Zur Begrüßung der Menschen wurden Bananen verteilt und unser Land erlebte ein vorher kaum gekanntes gesamtgesellschaftliches Glückserlebnis.
Jürgen Hofmann
Seit 1985 bin ich bei der Deutschen Bahn beschäftigt. Heute arbeitete ich im FZI Werk Fulda. Im Herbst 89 leistete ich meinen Wehrdienst bei der Bundeswehr ab.
Als Bundeswehrsoldat musste ich für Transitreisen durch die DDR noch eine Erlaubnis beantragen und viele Befragungen über mich ergehen lassen. Als dann die Grenze offen war, meinte einer meiner Ausbildungsoffiziere „Wir machen hier Ausbildung, haben aber gar kein Feindbild mehr“.
Die Grenzöffnung konnte ich zunächst gar nicht fassen. Ich war eher skeptisch. Mein Wohnort war nur etwa 30 km von der Grenze zur DDR entfernt. Ich bin damit aufgewachsen, mich nicht zu sehr der Grenze zu nähern und vorsichtig zu sein.
Ich kann mich sehr gut an die Öffnung eines neuen Grenzübergangs in Rasdorf erinnern. Schon vorher war in Tann ein neuer Übergang geschaffen worden, doch in Rasdorf konnte ich beobachten, wie im Winter der Grenzzaun durchschnitten wurde und die Trabbis über die neu befestigte Straße gen Westen rollten.
Später bin ich noch oft in die DDR gefahren, habe Grenzwanderungen gemacht und viele Kontakte zu DDR-Bürgern geknüpft. In meinem Pass findet sich noch ein Visa-Stempel aus Nov/Dez 89.
Ingo Hums
Zur Zeit der Wende leistete ich gerade meinen Wehrdienst bei der NVA. Ich war gerade 20 Jahre alt. Gleich nach Beendigung seiner Lehre als Lokschlosser hatte ich mich für drei Jahre verpflichtet. Für mich war es wichtig, dass ich so sein Facharbeitergehalt weiter beziehen konnte, ansonsten hätte ich wesentlich weniger Wehrsold bekommen. Mit meiner Dienststelle bei der DR hatte ich vereinbart, dass ich gleich nach Ende der Wehrdienstzeit eine Ausbildung als Lokführer beginnen konnte.
Während meiner Zeit bei der NVA war ich in der Nähe von Görlitz bei einem Ausbildungsgeschwader stationiert. Ich war bei der Wartung und Kontrolle der MIG 21 beschäftigt. Von dem ganzen Geschehen rund um den 9. November habe ich praktisch nichts mitbekommen.
Wenige Tage nach der Grenzöffnung erging ein Befehl an die NVA, dass alle Reichsbahner:innen aus der NVA zu entlassen seinen und diese sich sofort bei ihren Heimatdienststellen zu melden hätten.
So meldete ich mich auch zunächst bei meiner Heimatdienststelle Bf Adorf, aber ich hatte andere Pläne. Ich fuhr nach Nürnberg und bewarb mich dort um einen Ausbildungsplatz als Lokführer. Gleichzeitig stellte ich noch zwischen Weihnachten und Silvester 1989 einen Ausreiseantrag aus der DDR. Das war damals nur noch eine Formalität.
Bis April 1989 arbeitete ich noch bei Reichsbahn, dann wechselte ich nach Nürnberg zur Deutschen Bundesbahn, wo ich heute noch beim Fernverkehr beschäftigt bin.
Stefan Jost
Meine Geschichte über die Ereignisse im Herbst 1989 beginnt im Juni 1989, als wir auf Einladung von Verwandten eines Freundes erstmals in die DDR eingeladen wurden. Daraus ist eine bis heute andauernde Verbindung/Freundschaft nach Dresden entstanden. Nach unserem damaligen Besuch war unser Interesse an der beginnenden Entwicklung, von der im Sommer 1989 ja noch niemand etwas ahnte, besonders groß. Zu dieser Zeit war ich Triebfahrzeugführer beim Bahnbetriebswerk Frankfurt (M) 2 und in der Nacht vom 09./10. Nov. 1989 mit dem Zug 40348 noch Köln-Eifeltor und zurück mit Zug 55341 nach Frankfurt unterwegs. Während einer Pause erfuhr ich von der aktuellen Entwicklung und der Maueröffnung. Nach Dienstende, nachts um ca. 2:30 Uhr, nahm ich ein Flasche-Sekt, weckte meine Frau und wir tranken überwältigt vor Freude ein Glas auf die Maueröffnung.
Am Montag nach den Ereignissen, also am 13.11.1989, ist in meinem Notizbuch aus der Zeit der Zug D459 verzeichnet, bespannt mit Tfz 110 113 und mir von Frankfurt bis Bebra. Man kann es heute kaum beschreiben, wie voll die Bahnsteige und der Zug war. Ich hatte große Bedenken, den Zug zu fahren, weil er völlig überfüllt war. Ich kam überhaupt nicht auf meine Fahrplangeschwindigkeit und fuhr die Haltebahnsteige nur mit sehr geringer Geschwindigkeit an, da eine heute unvorstellbare Menge an Reisenden mit dem ohnehin schon überfüllten Zug zurück in die DDR fahren wollten. Alle bepackt mit Plastiktüten und den Dingen, die sie hier bei ihrem ersten Besuch im Westen gekauft hatten. Ich habe bei der Einfahrt in die Bahnhöfe immer schon früh abgebremst und bin mit stark verminderter Geschwindigkeit an den Bahnsteig herangefahren, weil ich Sorge hatte, dass in dem Gedrängel etwas passiert.“ In Bebra wurde die Lok wie üblich vom Zug abgehängt und die Deutsche Reichsbahn hat übernommen. Kontakte zu den Reichsbahnern hatte ich nicht.
Vorher und nachher habe ich so etwas nie mehr erlebt. Es war ein Ausnahmezustand. Überall sah man strahlende Gesichter. Die Begeisterung und die Freude von uns allen damals ist mir bis heute in meinem Gedächtnis geblieben.
Erich Klein
Die Schicht, für die ich am 9. November 1989 eingeteilt war, war im Normalfall eine gute Tour, bei der ich um 5 Uhr morgens wieder zu Hause gewesen wäre. Verbotenerweise hatte ich auf der Lok Radio gehört. So wusste ich, dass die Grenze offen war.
Als Triebfahrzeugführer des damaligen Bw Offenburg hatte ich den Auftrag in der Nacht vom 9. auf 10. November einen Güterzug mit Sand aus dem Rheintal von Kehl–Kork zum Betonwerk nach Bauerbach an der damals im Bau befindlichen Schnellfahrstrecke Mannheim – Stuttgart zu fahren. Wir fuhren damals mehrmals in der Woche solche Züge mit Rheinsand zum Bau der Strecke dorthin. Dienstbeginn war um 23.13 Uhr. Ich nahm also gegen ½ 12 die mir zugeteilte Lok 140-052 in Betrieb und fuhr Lz nach Kork.
Dort angekommen wurde nach dem Kuppeln eine volle Bremsprobe ausgeführt und dann führte die Fahrt nach Bruchsal. Dort musste der Zug umfahren werden und dann ging es Richtung Bretten zu dem Betonwerk in Bauerbach. Unterwegs rief mich der Lokdienst aus Karlsruhe an und teilte mir mit, dass ein Zug aus der von DDR-Bürgern besetzten Prager Botschaft unterwegs nach Lahr sei und ich diesen von Bruchsal nach Offenburg befördern sollte. Mein Dienst in dieser Nacht würde sich deshalb um ca. 2 bis 3 Stunden verlängern. Von ihm erfuhr ich auch, dass scheinbar die Berliner Mauer geöffnet wurde, die Leute aus der Botschaft aber noch unterwegs wären.
Nach dem Abkuppeln in Bauerbach musste ich einen Leerzug vom Vortag nach Karlsruhe fahren. Dort wurde ich abgelöst und bekam eine neue Lokomotive, die 140-447. Mit dieser fuhr ich wieder Lz nach Bruchsal. Gegen 7 Uhr traf der Zug aus Prag ein. Er hatte so etwa 15 Wagen, war also sehr lang. Ich weiß noch, ich schaute interessiert aus meinem Lokfenster auf den einfahrenden Zug und die darin befindlichen Personen. Viele standen an den Fenstern und waren sicherlich genauso interessiert, wo sie landen würden. Nach dem Anhängen und der Übergabe der erforderlichen Papiere fuhr ich dann den 18556, so seine Zugnummer, in Richtung Offenburg. Die Fahrt verlief etwas holprig, da wir ja jetzt im Berufsverkehr waren und es keinen voraus geplanten Fahrplan gab. Auf jeden Fall erreichte ich gegen 11 Uhr Offenburg und wurde dort abgelöst. Mein Kollege fuhr dann weiter ins 15 km entfernte Lahr, wo die Menschen in einer Turnhalle untergebracht wurden.
Diese Fahrt hatte ich nie vergessen und ist mir heute nach 35 Jahren noch durchaus präsent!
Marcel Kunz
Als die Wende kam, war ich erst 5 Jahre alt. Damals habe ich in Heidenheim gewohnt, heute lebe ich in Traunstein. Meine Großeltern lebten bis 1953 in der DDR. Es gab weitere Verwandte in der DDR, doch zu denen hatte meine Familie bis 1988 keinen Kontakt.
An die Ereignisse rund um den 9. November 1989 kann ich mich nicht erinnern, doch an Verwandtenbesuche in der DDR. Besonders beim ersten Grenzübertritt war mir alles unheimlich. Ich habe nicht verstanden, warum es da so „böse“ Grenzkontrollen gibt und warum uns die Verwandten nicht besuchen konnten. Bei der Kontrolle hatte ich große Angst und weigerte mich auszusteigen. Die Grenzbeamtin ist dann pragmatisch gewesen und hätte gemeint, er solle dann eben sitzen bleiben.
An diese Angst bei der Grenzkontrolle kann ich mich immer noch sehr gut erinnern. Bis heute hat sie mich geprägt. Woher diese Angst kam, kann nicht beantworten. Als diese weggefallen waren, war ich einfach nur froh.
Klaus-Dieter Laut
Geboren bin ich in Berlin-Neukölln. Ich bin 82 Jahre alt und seit 67 Jahren Mitglied der EVG. Bereits seit 21 Jahren bin ich im Ruhestand, aber immer noch sehr aktiv. Als Abteilungsleiter TT des Sportvereins Lokomotive Potsdam trainiere ich noch immer Tischtennisspieler. Jahrelang bin ich begeistert Harley gefahren und habe auch regelmäßig an den Bikertreffen der EVG teilgenommen.
1957-1960 habe ich meine Lehre als BV-Eisenbahner durchlaufen, zunächst war ich in der Fka Potsdam Stadt tätig. Nach meiner Prüfung an meinem 18. Geburtstag war ich als Fdl in Pdo (Potsdam Stadt) eingesetzt.
Mein Schwiegervater war der unbesoldete Stadtinspektor (so etwas wie ein Stadtrat) in Potsdam und sein Vater der sozialdemokratische Gastwirt Max Singer. In seiner Gaststätte „Singers Volksgarten“ sind noch Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht eingekehrt.
In der Nacht 12./13.08.61 hatte er Dienst in Pdo. Lokwechsel wurde im sog. „Käfig“ gemacht, ein Gleisbereich zwischen Westberlin und Potsdam. Mit Beginn der Betriebspause wurden noch in der Nacht die Schienen „herausgerissen“ und die Verbindung nach Westberlin getrennt. Nur noch internationale und alliierte Züge konnten die Grenze nach Kontrolle durch die sowjetischen Soldaten queren. Auch sonst gab es keinen Personenfernverkehr mehr. Es verkehrten nur noch Vorortzüge nach Magdeburg und Stendal.
In Babelsberg standen am Morgen die „Grenzgänger“, d.h. die DDR-Bürger, die im Westen arbeiteten. Sie konnten nicht mehr zu ihren Arbeitsstellen.
Am 09.11.89 hatte ich ab 21 Uhr Dienst als Fdl in Pds (heute Potsdam Pirschheide). Neben mir waren weitere Fdl sowie ein Zugmelder im Dienst. Das Stellwerk regelte die mit ca. 600 Zugfahrten meistbefahrene Strecke des südlichen Außenrings.
Nach dem Dienst bin ich mit dem Auto nach Hause gefahren. Die Autobahn nach Dreilinden war verstopft. Ein Gerücht hatte sich verbreitet, dass die Grenze ab 8 Uhr wieder zu sei. So liefen die Menschen zu Fuß über die Autobahn, um rechtzeitig vorher da zu sein.
1988 durfte ich schon mal nach Westberlin zu einem Besuch meiner Tante ausreisen. Ich kann mich erinnern, dass ich zur Feier des Tages fröhlich mitgetrunken habe und trotzdem mit dem Auto zurückgefahren bin.
Im Frühjahr 89 habe ich erneut einen Antrag auf einen Besuch von Verwandten gestellt, diesmal auch für meine Frau. Der Antrag wurde genehmigt. Aus meiner Stasi-Akte weiß ich, dass der Politleiter auf sein Haus spekuliert hatte, wenn er nicht zurückkommen würde. Tatsächlich habe ich kurz überlegt, im Westen zu bleiben, aber ich wusste, meine Kinder wären im Heim gelandet. Ne, der Westen, das war nicht meine Welt!
Gekauft habe ich Adidas Turnschuhe für 24,80 DM, daran kann ich mich noch genau erinnern. Zudem wollte ich unbedingt ein Westauto haben und habe einen Opel Ascona für 10.000 DM erworben. Für den Zoll musste ich dann noch einmal 4800 M drauflegen.
1972 bekam ich durch einen Freund das Angebot, als Fdl in Griebnitzsee zu arbeiten, dies bedeutete eine Grenzzulage von 72 Mark. Ein halbes Jahr lang habe ich dort auch als Vertreter des Dienststellenleiters gearbeitet, 1974 bekam ich das Angebot als Vorsteher in Rehbrücke mit der höheren Verantwortung für 30 MA mehr Gehalt. Doch nach einem Jahr bin ich wieder in den Schichtdienst gewechselt und war bis zur Schließung von 1984 bis 2003 als Schichtleiter (Fdl) auf dem Bf Potsdam Pirschheide. Nach Griebnitzsee durfte ich nicht zurück, Grenzdienst durfte ich nicht mehr machen. Irgendwer meinte, es sei zu meinem eigenen Schutz.
Georg Marschefski
1989 war ich 27 Jahre alt. Mein Arbeitsplatz war an diesem Abend die Gepäckabfertigung vom Bf Zoo bei der Deutschen Reichsbahn in Westberlin. Irgendwann kam jemand hereingerannt und krähte laut überdreht, „Die Trabbis fahr'n am Kurfürstendamm“ Wir natürlich raus und konnten es kaum glauben.
Damals habe ich in der Nähe der (noch halb zerstörten) Oberbaumbrücke gewohnt. Hier gab es eine Grenzübergangsstelle für Fußgänger. Gegen 22.00 Uhr war ich an dem Abend wieder zu Hause: Die Wohnung hell erleuchtet, aber keiner da. Frau, Kinder und erster Besuch aus Ostberlin standen 100 m weiter vor der Oberbaumbrücke, über die ein Strom von Menschen kam, teils mit Gepäck, einer mit Staubsauger. Es war großes Hallo und die ein oder andere Flasche Sekt strömte. Als der Andrang schon deutlich nachließ, gingen wir am ersten schon verwaisten Grenzposten vorbei auf die andere Seite der Brücke und riefen übermütig „lasst uns rein, lasst uns rein!“ Von den Grenzposten hat sich aber keiner blicken lassen. Gegen 3.00 Uhr morgens kamen weitere Freunde und Bekannte aus Ostberlin und sogar Verwandte aus Dessau. Es war eine unvergessliche Nacht.
Ganz in der Nähe befand sich die U-Bahnstation Schlesisches Tor. In den Tagen, Wochen, ja in ersten 2-3 Monaten nach der Grenzöffnung kam man dort überhaupt nicht durch. Trauben von Menschen drängten sich unten in die Halle, um dann nach oben auf den Bahnsteig zu gelangen. Ich rief immer „lasst mich durch, ich muss zur Arbeit!“ Das funktionierte. Von der BVG wurde wochenlang angeordnet, auf dem Rückweg schon eine Station früher auszusteigen. Wenn man bis zur Endhaltestelle Schlesisches Tor gefahren wäre, wäre man durch die rein drängenden Menschenmassen ja gar nicht aus der U-Bahn und vom Bahnsteig gekommen.
Vor Öffnung der Grenze konnte man blind über die Straße gehen, 6 Monate später herrschte auf der Straße Rushhour und es gab viele neue Ampeln.
In den Jahren danach bin ich seltener nach Ostberlin gefahren als vorher. Der Reiz war vorbei. 1992 bin ich zurück in meine Heimatstadt Dortmund.
Ralf Marx
Er ist in Berlin geboren und 1986 ins Vogtland gezogen. Zur Wendezeit war er 28 Jahre alt.
1989 war meine Heimatdienststelle der Bf Adorf im Vogtland, dort arbeitete ich als Zugführer. Damals gab es in Adorf noch 120 Beschäftigte im Zugbegleitdienst. Ich begleitete die internationalen Züge „Karlex“ und „Karola“ auf der gesamten Reichsbahnstrecke bis zum Grenzbahnhof Voitersreuth. Ich fuhr überwiegend sogenannte Übernachtungsschichten, d.h. Hinfahrt, Übernachtung, Rückfahrt.
Im Sommer 1989 waren diese Züge voller als üblich. Unter den Reisenden befanden sich mehr und mehr Menschen auf dem Weg nach Prag, in die deutsche Botschaft. Um ihre eigentlichen Absichten zu verdecken, fuhren sie nicht mit den direkten Zügen von Berlin nach Prag, sondern sie nutzen internationale Fahrscheine – „mit Rückfahrt natürlich“ – nach Karlsbad. Dort konnte man umsteigen und im tschechischen Binnenverkehr weiter nach Prag reisen. Aufgefallen ist mir, dass die Packwagen, in denen auf der Fahrt Richtung Karlsbad Kinderwagen und schweres Gepäck untergebracht waren, bei der Rückfahrt in den letzten Wochen zwar vorbildlich über Nacht in Karlsbad gereinigt worden waren, doch oftmals noch Kinderwagen u.a. von der Hinfahrt darin befanden.
Von der Grenzöffnung habe ich beim Aufenthalt in Riesa erfahren. In Sachsen war der Empfang von westdeutschen Sendern meist nicht möglich, anders in Riesa. Der Radioempfang von Radio Luxemburg in Riesa war nach Einbruch der Dunkelheit und auf Mittelwelle möglich. 23 h war es natürlich dunkel. Dort hörte ich mit meinen Kolleginnen und Kollegen Radio Luxemburg. Die Grenzöffnung war für mich schockierend. Es war überhaupt nicht klar, was das bedeutete. Für den Feierabend in der Übernachtung im Bf. Leipzig Hbf hatten wir uns eine Flasche Wermut gekauft. Diese haben wir dann allerdings schon im Zug geleert.
Nach der Übernachtung traf ich am nächsten Tag zwei Reisende auf dem Weg Richtung Karlsbad. Für mich war offensichtlich, was diese vorhatten. Deshalb habe ich sie direkt angesprochen, ob sie nicht wüssten, dass die Grenze offen sei. Die Reisenden konnten es gar nicht glauben. Ich musste sie erst lange überzeugen, doch in Plauen auszusteigen und direkt den Zug nach Hof zu nehmen.
Nach dem 9. November war es schlagartig mit den überfüllten Zügen Richtung Karlsbad vorbei. Viele haben sich Autos vermutlich gekauft und seien aufs Auto umgestiegen.
Ich kann mich gut an die völlig überfüllten Züge Richtung Westen im November 89 erinnern, der Wagenuntersuchungsdienst musste deshalb zum Teil eine Geschwindigkeitsbeschränkung von 30 km/h anweisen.
In den Monaten vor der Grenzöffnung begleitete ich auch Züge auf der Fahrt nach Leipzig bayerischer Bahnhof über Dresden Hbf. Viele Reisende fuhren montags von Zwickau über Altenburg zum Leipziger bayerischen Bahnhof zu den Montagsdemos. In Dresden habe ich einmal vorm Bahnhof die aufgebrachte Menschenmenge gesehen und gehört, wie Scheiben zertrümmert wurden. In Leipzig konnte ich ein anderes Mal beobachten, wie der Hauptausgang geschlossen und bewacht war und an den Seiteneingängen alle Personen beim Verlassen des Bahnhofs kontrolliert wurden. Unvergessen bleibt mir, die Ausrüstung der Polizeiwagen W 50 und Lo’s mit Gittern als Schutz vor Steinwürfen.
Rudolf Mockert
Zur Wendezeit war ich 32 Jahre alt und als Wagenmeister im Bf Hof eingesetzt.
Lok- und Personalwechsel mit der Deutschen Reichsbahn wurde in Hof durchgeführt. Der Nachbarbahnhof war Gutenfürst. Bei einem Besuch in Gutenfürst nach der Wende sind mir später die große Gleisanlage und auch die Schutzweichen aufgefallen. Diese Weichen wurden in der DDR auch Friedensweichen genannt. Sie sollten ein Durchfahren der Züge nach Westen verhindert und endeten im Nichts.
Das Verhältnis zu den Lokführern und Zugbegleitern der Deutschen Reichsbahn war damals „normal“. Teilweise bestanden noch Verbindungen aus der Zeit vor der Grenzziehung. Manchmal kam man ins Gespräch miteinander. Auch nach der Wende gab es noch vereinzelt Kontakte miteinander. Einmal haben wir sogar eine gemeinsame Veranstaltung mit den Kollegen aus Gutenfürst durchgeführt. Das war eine schöne Sache.
Vor der Wende kam es nur in Ausnahmefällen zu telefonischem Kontakt mit den Reichsbahnern in Gutenfürst. Alles wurde schriftlich abgewickelt, bspw. wurden nicht RIV-fähige Wagen einfach zurückgeschickt. Nach dem 9. November wurde kollegial zusammengearbeitet, so habe ich einmal in Gutenfürst bei einem schadhaften Kesselwagen ausgeholfen.
Im Oktober 1989 musste ich einen der Sonderzüge aus Prag untersuchen. An Einzelheiten kann ich mich nicht erinnern, nur an die große Aufregung und die ausgelassen fröhliche Stimmung.
Am 9./10. hatte ich Nachtdienst. Da herrschte eine Stimmung, die man sich gar nicht vorstellen kann. „Wahnsinn“, so würde ich es nennen. Mehrere Schnellzüge kamen in dieser Nacht über die Grenze. Es gab keine Pause, die Arbeitsbelastung war an der Schmerzgrenze.
In den Tagen danach herrschte Ausnahmezustand. Viele neue Züge wurden eingelegt. Die Reisezüge kamen mit 400 % Besetzung über die Grenze. Selbst in den Toiletten hatten sich vier Personen gezwängt. Das Zugbegleitpersonal konnte nicht mehr durch die Züge laufen. Die Federung saß auf. Normalerweise ein betriebsgefährdender Schaden, doch wenn es noch zu verantworten war, haben wir die Züge trotzdem freigegeben und diese durften mit einer Geschwindigkeitsbeschränkung von 40 km/h weiterfahren. Schnellzüge mit 22 Wagen standen in Hof bis in den Weichenbereich. Bei der Deutschen Reichsbahn hat man alle Personenwagen, die noch irgendwie fahren konnten, eingesetzt. Nahverkehrswagen wurden einfach mit in die Fernzüge eingestellt, um den hohen Bedarf abzudecken. Tagelang ging es so. Alles lief sehr organisiert und diszipliniert ab.
Einmal war es doch unabdingbar, drei schadhafte Wagen auszusetzen. Die Reisenden mussten aussteigen und drängten sich in den nächsten, ebenfalls überfüllten Zug. Auch in diesem Fall herrschte kein Unmut unter den Reisenden.
Achim Naujokat
Zur Wende im Herbst 89 war ich gerade 38 Jahre alt geworden. Wir, die Triebfahrzeug-Einsatztechnologen für Sonderverkehre aus den Reichsbahn-Direktionen, saßen wie jedes Jahr im November im alten Gasthof Pockau (Erzgeb.) beim Abendbrot. Es war Donnerstagabend und wir hatten unsere Arbeit gerade abgeschlossen, alle Sonder- und Zusatzzüge für die Weihnachtsverkehre mit Loks versehen (auf dem Papier) und freuten uns auf die morgige Heimfahrt. Wir hatten hart gearbeitet und wollten am nächsten Morgen nur noch nach Hause. Wie meist in der letzten Zeit guckten wir um 19.30 Uhr die „Aktuelle Kamera“.
Da kam Herr Schabowski mit seinem Zettel, und plötzlich war die Eisenbahn-Welt verändert. Gefeiert haben wir nicht, sondern die Nachricht von der Grenzöffnung ganz gelassen aufgenommen.
Am Montag war dann alles anders. Viele Regelungen z.B. mit NVA-Sonderzügen waren bedeutungslos. Jetzt musste schnellstens Kontakt zur DB aufgenommen werden, denn die Verkehrsströme verliefen aktuell DDR-Nord-Süd und zukünftig DDR-BRD Ost-West. Erste telefonische Kontakte mit der DB-Zentrale und den DB-Nachbardirektionen fanden noch unter Stasi-Aufsicht statt, das entpolitisierte und normalisierte sich bald. Mit den Tfz-Technologen der DB war es vom ersten Augenblick an ein gutes konstruktives Zusammenarbeiten. Wegen der bis dahin bei der DR herrschenden Tfz-Knappheit mussten wir mehr auf effektiven Fahrzeugeinsatz achten als die DB-Kollegen, und letztlich gab es schon 1990 einige Tfz-Durchläufe DB-DR und umgekehrt, nachdem die entsprechenden Zulassungen unbürokratisch erteilt waren.
Ungewöhnlich für mich war nur, dass die „Lokdienst-Chefs“ der Bundebahndirektionen sich untereinander gar nicht kannten und sie sich erst nach der Wende nach dem Beispiel der Reichsbahnkollegen miteinander getroffen haben.
Eine lustige Geschichte fällt mir noch ein: Ein paar Jahre vorher konnte ich wegen meiner Westverwandtschaft im Intershop eine Flasche West-Whiskey erwerben. Den wollte ich meinen Kollegen anlässlich meiner Geburtstagsfeier spendieren. So bat ich den Wirt des Hauses, doch Eiswürfel bereitzustellen. Der teure Whiskey aus dem Westen schmeckte dann allerdings nach Chlor. (In der DDR wurde dem Trinkwasser Chlor, bzw. Fluor zugesetzt)
Sabine Oltmanns
Zum Zeitpunkt der Wende habe ich im Güterzentrum Möckernstraße (Stückgut) der Deutschen Bundesbahn in Westberlin gearbeitet. Dies ist eine Besonderheit, denn der Eisenbahnverkehr in Westberlin wurde nach dem 4-Mächte-Status von der Deutschen Reichsbahn betrieben. Das Stückgut wurde als Wagenladung mit Sammelfrachtbrief an den Empfänger Güterzentrum transportiert und dann weiter an die Einzelempfänger als Stückgut behandelt. Im Güterzentrum haben wir damals auch pro Tag 2-3 Sattelzüge mit Stückgütern bekommen, die dann ebenfalls entladen wurden.
Wir haben dann die Frachtbriefe gebucht und entweder mit unseren Bahnspediteuren zugestellt oder die Selbstabholer avisiert.
An den 9. November kann ich mich nicht genau erinnern, auch nicht an die Stimmung im Betrieb und an die Berührungspunkte zur Deutschen Reichsbahn.
Sehr schnell wurden Entscheidungen getroffen, um die Doppelstruktur DB/DR in Westberlin beim Stückgut aufzulösen. Aus diesem Grunde wurde ich zu einer vierwöchigen Ausbildung VEDE (Vereinfachte elektronische Datenerfassung) nach Oldenburg geschickt, um anschließend dieses Wissen weiter an die Kolleg:innen der Deutschen Reichsbahn zu vermitteln.
Nach Abschluss der Ausbildung wurde ich nach Ostgüterbahnhof in Ostberlin geschickt, wo sich 1989 die größte Stückgutabfertigung befand. Die Größenordnung war im Verhältnis zum Güterzentrum Möckernstraße in Westberlin nicht zu vergleichen. In Erinnerung ist mir die riesige Kantine geblieben. Ich kann mich auch daran erinnern, dass die Büros der Reichsbahn im Gegensatz zu denen der Bundesbahn alle unterschiedlich tapeziert und individuell mit Tierposter u.a. gestaltet.
Aufgefallen ist mir in diesen Tagen der sehr hohe Frauenanteil bei der Reichsbahn. Auch die Arbeitsorganisation und Arbeitsteilung fand ich ungewöhnlich. Für jede Tätigkeit gab es einen besonderen Arbeitsplatz.
Wolfgang Rau
Am 9. November 1989 war ich in der Zugabfertigung Büchen eingesetzt, meine Schicht ging von 20 bis 6 Uhr. Es herrschte seit Tagen eine unruhige Stimmung. Güterzüge im Grenzverkehr fielen aus. Es kamen weniger Züge von Schwanheide rein, aber auch von Hamburg Richtung Osten wurden weniger Züge angeboten.
Ich hatte gemeinsam mit einem Kollegen aus Ostberlin im Dienst, der bereits vor dem Mauerbau in den Westen gegangen war. Weil wenig Betrieb herrschte, schauten wir Nachrichten auf einem mitgebrachten sehr kleinen Fernseher. In diesen Tagen wurden ständig Berichte über die Vorgänge in der DDR gezeigt. Wenige Tage zuvor waren zwei Botschaftszüge über Büchen nach Hamburg hereingekommen. Die Pressekonferenz mit Schabowski löste heftige Emotionen, gerade bei meinem Kollegen aus. Mit einer sofortigen Öffnung der Grenze hatte niemand von uns gerechnet. Auch dass es so schnell zu einem deutschen Staat kommen würde, war unvorstellbar.
Es gab in Büchen regelmäßigen Kontakt mit den Reichsbahnern. Der Lok- und Personalwechsel fand auf bundesdeutscher Seite statt. Die Reichsbahner äußerten sich über die Vorgänge in der DDR: „Die drehen bei uns durch“. Mit dem letzten Berliner Zug fuhren sie am Abend wieder zurück Richtung Schwanheide.
Morgens zwischen 4.00h - 4.30h rollten dann die ersten Trabis über die Grenze. Ich dachte, wenn Kinder dabei sind, nehme ich sie mit nach Hause und spendiere ihnen einen Kakao. Doch es waren nur Erwachsene, die kamen. Büchen ist eine Kleinstadt, in der es nicht viele Geschäfte gibt. Doch die Trabis machten erst einmal Stopp an einer kleinen Otto-Filiale, um zu sehen, was es gibt.
Zwei Tage nach der Grenzöffnung erschienen die ersten Reichsbahner aus Kuhlenfeld in der Zugabfertigung Büchen. Mit diesen bestand bis dato nur telefonischer dienstlicher Kontakt, jetzt wollten sie mal sehen, welche Menschen zu den Stimmen gehörten. Die Reichsbahner hatten ein völlig falsches Bild vom Westen und konnten nicht glauben, dass die Bundesbahner:innen auch mit dem Geld rechnen mussten. „Sie wollten nicht wahrhaben, was auf sie zukommt“. Ich kann mich erinnern, dass die Kollegen erstaunt waren, dass ich keinen Videorecorder hatte.
Die sogenannten Reisekader, d.h. die Reichsbahner, die im Grenzverkehr eingesetzt waren, hatten eine realistischere Sicht auf die Dinge. Von ihrer Westzulage konnten sie in Büchen in den Geschäften einkaufen. Sie waren nicht so naiv und hatten von den Bundesbahnern schon vorher einiges vom Westen erfahren. Auch die „Wessis“ sind in den ersten Wochen oft in die DDR gefahren, um sich umzuschauen.
Die Züge Richtung Westen waren voll. Die Trabis rollten Tag für Tag. Alles war zugeparkt in den Städten rund um Büchen. Die Polizei hat keine Knöllchen verteilt, sondern alle Augen zugedrückt. Ich kann sich daran erinnern, dass die Kühlschränke vor dem Elektroladen, direkt vom LKW verkauft und dann in die Trabis verstaut wurden.
Mit der Grenzöffnung war für uns Kolleg:innen im Grenzbahnhof klar, dass es zu großen Veränderungen kommen würde. Alle haben sofort begonnen, sich umzuorientieren und nach neuen Arbeitsplätzen zu suchen. Die Zollabfertigung wurde als erstes geschlossen. Ich habe eine Ausbildung als Fdl angefangen. Viele andere haben ebenfalls in andere Bahnbereiche gewechselt. Ein Kollege ist regelrecht zusammengebrochen, weil er mit der Wende und den Veränderungen nicht zurechtgekommen ist. Für ihn gab es nur Büchen.
Reinhard Scheer
Geboren wurde ich als Sowjetzonen-Baby 1949 in Berlin-Hohenschönhausen. Dann wurde die DDR gegründet und ich wurde DDR-Bürger. Meine Verwandten lebten in Tempelhof, Steglitz, Frohnau, Heiligensee und Reinickendorf. Wir hatten in den Sommerferien immer Besuch von einem Cousin aus Heiligensee. Am 13. August 1961 (ein Sonntag) um 09 Uhr kam sein Vater und klingelte an der Tür. „Muss meinen Sohn abholen, die Grenzen sind dicht!“ Ich war damals 12 Jahre alt und die Hälfte der Stadt war für mich auf einmal Tabu. Die andere Hälfte musste ich erst kennenlernen. Mein Berufswunsch wurde die Eisenbahn. 1966 begann ich meine Lehre bei der S-Bahn als Elektromontageschlosser. Nach Ende der Lehre machte ich eine Ausbildung zum Triebwagenführer der S-Bahn. Am 20.12.1968 bestand ich meine Prüfung zum Triebwagenführer der Berliner S-Bahn. In den Nächten erzählten die älteren Kollegen von ihren Fahrten durch ganz Berlin.
Nach dem Bau der Mauer gab es zwei S-Bahn-Betriebe in Berlin unter einer gemeinsamen Leitung. Zuständig für die S-Bahn und den Schienenverkehr der Reichsbahn in Westberlin war das Reichsbahnamt Berlin 4. Von 1974/76 war ich im Bw Nordbahnhof. Wir befuhren die Strecken Wannsee- Frohnau; Lichtenrade-Schönholz-Lichterfelde Ost-Heiligensee-Lichtenrade. Ablösebahnhof war Friedrichstraße unten. Die Westberliner Reichsbahner befuhren Stadt- und Ringbahn sowie die Strecke nach Spandau.
In den Jahren 1974-76 war ich im S-Bw Nordbahnhof eingesetzt und fuhr bspw. die S-Bahn durch den Nord-Südtunnel. Hierfür bekam ich einen Sonderausweis, denn die Ablösung fand jeweils auf den ersten Bahnhöfen in Westberlin (Anhalter Bahnhof und Humboldthain) statt, wo Westberliner Reichsbahner:innen die Züge übernahmen.
Aufgrund einer „Dummheit“ – ich hatte in der S-Bahn zwei Westzeitungen gefunden und in meine Tasche gesteckt, was bei einer Zollkontrolle entdeckt wurde – wurde mein Sonderausweis nicht verlängert.
1984 wurde nach langen Verhandlungen der westliche Teil der S-Bahn an die Westberliner BVG übergeben. Es ergab sich das Kuriosum, dass die BVG-Kollegen auf der Nord-Süd S-Bahn zwar über Friedrichstraße fahren durften, aber auf der Stadtbahn nur bis Lehrter Stadtbahnhof. Zwischen Lehrter Bahnhof und Friedrichstraße musste der Zug von einem Reichsbahnkollegen umgesetzt werden. Zuständige Dienststelle war das S-Bahnbetriebswerk Friedrichsfelde, die Kollegen fuhren im Plan 12.
Erst 1988 wurde ich wieder im „kleinen Grenzverkehr“ eingesetzt. Diesmal als Springer auf der Stecke zwischen Friedrichstraße und Lehrter Stadtbahnhof. Einerseits war der Dienst etwas eintönig, denn es war immer nur eine Station hin und her zu fahren. Ich habe das pragmatisch gesehen „9 Minuten arbeiten, 11 Minuten Pause“. Für jede Schicht von mehr als 4 Stunden wurde, eine Zulage von 3 DM gezahlt.
Es gab getrennte Pausenräume für Westberliner und Ostberliner Reichsbahner:innen, doch das war den Beschäftigten egal.
Am 9.11.89 hatte ich noch eine Sonderschicht im Spätdienst zwischen Schöneweide und Pankow gefahren und bin spät nach Hause gekommen. Als meine Mutter mir erzählte, die Grenze sei offen, habe ich das nicht ernst genommen, ich habe kein Radio oder Fernsehen eingeschaltet, sondern bin schlafen gegangen, denn am 10.11. und 11.11.1989 war ich für die Frühschicht eingeteilt.
Morgens habe ich Radio gehört: Die Grenze ist offen. Ich fand die Witze vom Moderator auch schon mal besser und machte das Radio wieder aus und fuhr arbeiten. An der Straßenbahn fiel mir allerdings auf, dass die Gruppe derjenigen, die wie ich sonst um diese Zeit unterwegs waren, auf zwei Personen geschrumpft war, die anderen drei fehlten.
Erst als bei der Ablösung mein Kollege mir mitteilte, er sei völlig fertig, er hätte es nicht geschafft, die Kalender umzustellen, begriff ich, dass die Grenze wirklich offen war. Es herrschte großer Trubel auf dem Bahnsteig.
Es folgten zwei aufregende Frühschichten.
Die Berliner:innen wussten ja, wo sie hinwollten, doch die Menschen aus dem Umland kannten sich überhaupt nicht aus, stellten viele Fragen. Am 11.11.1989 waren viele Besucher von außerhalb unterwegs. Sie stellten viele Fragen, auch kuriose: „Wo ist der Westausgang vom Bahnhof? Ich will was Schönes einkaufen“ und zeigten mir dabei auf dem BVG-Plan den Bahnhof Frankfurter Allee, der ja im Osten Berlins liegt.
Günter Tresp
Ich war damals am Hauptbahnhof Braunschweig tätig. Überall waren die Freude und Euphorie der Menschen spürbar. Alle waren in einer Aufbruchstimmung ohnegleichen. Für mich persönlich war das Zusammentreffen aller Familienmitglieder, die damals zum großen Teil in der DDR lebten, das schönste Ereignis. Niemals habe ich geglaubt, die Wiedervereinigung beider deutschen Staaten erleben zu dürfen. Meine Tochter, die damals noch Schülerin war, sagt noch heute, das war die schönste Zeit meines Lebens, die sie nie vergessen werde. Es war für sie erlebte und gelebte Geschichte.
Es war das Wochenende 18/.19. November 1989. An diesem Wochenende wurde der große Ansturm erwartet. Zwischen der Deutschen Bundesbahn und der Deutschen Reichsbahn waren auf die Schnelle Fahrpläne für Züge von und nach Magdeburg sowie nach Stendal erarbeitet worden. Zum ersten Mal seit 1945 erschienen diese Orte wieder in den provisorischen Fahrplanunterlagen.
Ich war zu der Zeit im Hochhaus im Bahnhofsgebäude im Verwaltungsbereich beschäftigt. Da ich jedoch aus meiner früheren Tätigkeit beim Hauptbahnhof die Abläufe dort gut kannte, habe ich an dem 19. November den Aufsichtsbeamten (mit roter Mütze) am Bahnsteig den ganzen Tag unterstützt, denn es gab viele Dinge spontan zu regeln, sei es zusätzliches Personal für Sonderzüge oder die Bereitstellung von zusätzlichen Triebwageneinheiten. Ich unterstützte die Aufsicht in Zivil. Wenn ich in Uniform aufgetreten hätte, wäre ich mit Fragen der Reisenden bestürmt worden und hätte den Kollegen nicht helfen können. Der Bahnhof Braunschweig war „proppenvoll“ mit Menschen.
Nachdenkliche Gefühle kamen auf, als ich dann zum ersten Mal die Durchsagen des Fahrdienstleiters vom Stellwerk hörte: „Es hat Einfahrt der Sonderzug aus Magdeburg…oder Stendal.“ Alle Züge waren übervoll besetzt. Ein Zugschaffner sagte mir: „Kontrolle war nicht möglich, alle Stehplätze waren 2x vergeben!“
Gegen Abend mussten wegen Überfüllung der Züge nach Magdeburg Reisende zurückbleiben. Es bildete sich eine große Traube von Reisenden um den Aufsichtsbeamten. Dann kam dieser zu mir und fragte mich: „Sie wollen alle nach Magdeburg, können sie auch über Stendal fahren?“ Ich kann mich genau erinnern, dass mich die Frage zunächst geschockt hat, die Verkehrswege im Bereich der Bundesrepublik waren mir gut bekannt, aber in der DDR? Ich schämte mich ein wenig, dass ich nicht gleich antworten konnte.
Aber da ich einen Übersichtsplan mit angrenzenden Strecken bei mir hatte, wurde auch diese Frage geklärt. So konnten wir die Reisenden guten Gewissens über Stendal nach Magdeburg fahren lassen.
Auf Nachfrage am nächsten Tag erfuhren wir, dass die Verbindungen gut geklappt hätten und alle sicher nach Hause gekommen seien. Die Moral von der Geschichte: “Lerne rechtzeitig über die Grenzen hinaus“
Grenzüberschreitung Mattierzoll
Die Braunschweiger Zeitung kündigt am 11. November 1989 die Grenzöffnung an dem Übergang Mattierzoll/Hessen für den 12. November an.
Meine Frau und ich entschließen uns spontan, an diesem Ereignis teilzunehmen. Unsere 17 Jahre alte Tochter hat noch Bedenken mitzukommen, da sie am nächsten Tag eine wichtige Klausur in der Schule schreiben sollte. Doch auch sie entscheidet sich letztlich für die Grenzöffnung.
Wir fahren gegen 10.00 Uhr nach Mattierzoll. Etwa 1 Km vor Mattierzoll stellen wir unser Auto gezwungenermaßen auf dem Randstreifen der Landstraße ab, da beide Seiten fast voll geparkt sind. Trabis kommen uns entgegen mit fröhlich winkenden Menschen. Wir überschreiten die Grenzlinie, blicken hoch zum Wachturm und mustern stillschweigend den Grenzzaun. Unzählige Menschen begegnen uns an dieser Stelle mit unterschiedlich ausdrucksvollen fröhlichen, aber auch nachdenklichen Gesichtern. Ministerpräsident Albrecht befindet sich auch unter den „Grenzgängern“
Wir sind auf der anderen Seite und gehen auf Hessen zu. “Wenn hier eine Telefonzelle wäre, würde ich unsere Verwandten in Magdeburg anrufen, “sagt meine Frau. Aber eine solche ist in dieser Gegend Utopie.
Doch dort steht ein Grenzsoldat in voller Uniform der DDR. Er steht nur da, der Blick geht ins Unendliche. Er erschrickt ein wenig, als meine Frau ihn anspricht und nach einer Telefonmöglichkeit fragt. Nach einer kurzen Reaktionszeit antwortet er in sächsischer Mundart:“ Da komm se ma mit.“
Er dreht sich um, marschiert vorweg und wir hinterher. Letztlich landen wir in einem Privathaus in der guten Stube. Ein altes Mütterchen sitzt auf dem Sofa und freut sich über unseren Besuch. Dort steht ein Telefon und der Grenzsoldat bietet es uns an, von hier zu telefonieren. Unsere Verwandten in Magdeburg können es kaum fassen, von welcher Stelle wir jetzt gerade anrufen. Am Ende des Tages sagt unsere Tochter: "Es war richtig, dass ich mitgekommen bin. Dieser Tag wird ins Geschichtsbuch eingehen.“
Der Eisenbahnverkehr, der sich über ein halbes Jahrhundert in dieser Region zwischen Vienenburg und Halberstadt entwickelt hatte, ist leider nach der Grenzöffnung über diese Grenzorte nicht wieder aufgenommen worden.
Deutsche Wiedervereinigung aus der Sicht einer Amerikanerin und einer Französin.
Anfang Oktober 1990 gastierte die internationale Musikgruppe „Up with people“ in Braunschweig. Da die Mitglieder dieser Gruppe immer privat aufgenommen werden, hatten wir auch für einige Tage eine Amerikanerin und eine Französin zu Gast (Alter ca. 17 Jahre).
Die Wiedervereinigung stand bevor. Bald merkten auch unsere beiden Gäste, dass hier etwas Besonderes geschehen wird. Leider stellten wir dann immer wieder in den vielen Gesprächen fest, dass beide Mädchen schlecht oder gar nicht informiert waren. Die deutsche Teilung konnten sie nicht einordnen. Besonders deprimierend für uns war die Tatsache, dass ihnen das Vorhandensein zweier verschiedener politischer Systeme fremd war. Von der Grenze schienen sie nie etwas gehört zu haben.
Folglich fuhren wir mit beiden an die Grenze nach Helmstedt bei Tage und in der Nacht 2./3. Oktober, um an spontanen Veranstaltungen teilzunehmen.
Auf der Rückfahrt gelang es uns in Braunschweig in der Nacht eine Sonderausgabe der Braunschweiger Zeitung zu bekommen. Diese Zeitung, die ausschließlich über die Wiedervereinigung berichtete, erweckte ein besonderes Interesse beider Gäste.
Wir saßen zusammen in der Küche und übersetzten, soweit möglich, fast die gesamte Ausgabe. Die Stunden gingen hin, aber das Interesse der beiden an der Sachlage wurde immer größer, von Müdigkeit keine Spur, obwohl der Morgen schon nahte. Wir haben uns nachher oft gefragt, wie dürftig doch die Informationspolitik in anderen Ländern über unsere Teilung gewesen sein mag.
Bernhard Weisenseel
In den Jahren 1975 bis 1989 war ich regelmäßig im Zugbegleitdienst für die Züge ab und nach Probstzella eingesetzt. Ich war aber inzwischen auch als Fahrmeister tätig, sodass ich nur noch selten gefahren bin.
Ich hatte Rufbereitschaft und wurde zum Dienst geholt, um im Oktober 1989 den zweiten der Botschaftszüge aus Prag ab Hof nach Gießen zu begleiten. Vorgabe der DDR war, dass die Züge über das Gebiet der DDR in die Bundesrepublik fuhren, deshalb fuhr der Zug von Prag über Hof in die Bundesrepublik. Es war zunächst geplant, dass ich den Zug von Hof bis Nürnberg begleiten sollten. Begleitet habe ich ihn dann bis zum Zielbahnhof Gießen.
Die Menschen wurden in Hof und unterwegs mit Essen und Trinken versorgt. Als ich durch den Zug lief, haben die meisten Menschen geschlafen. Ich kann mich nicht an Kinder erinnern, höchstens an einige Jugendliche. Unterwegs habe ich mich lange mit zwei jungen Kindergärtnerinnen unterhalten, die mir viel über ihre Arbeit erzählt haben, bspw. über die politischen Schulungen mit Themenvorgaben, die schon die kleinen Kinder bekamen. Etwa eine Stunde habe ich mich mit den beiden Frauen unterhalten. Ich würde gern wissen, was aus ihnen geworden ist.
Vom Bahnhof Probstzella haben ich und meine Kollegen eigentlich nie etwas gesehen. Der Zug fuhr Gleis 1 rein, dann wurde die Lok abgehängt. Zwischen Gleis 2 und 3 war eine Mauer gezogen, sodass man nicht sehen konnte, was dahinter war. Die Zeit bis zur Abfahrt nutzte ich häufig für einen Besuch im Intershop, wo ich mich besonders an den echten Krimsekt für 5 DM erinnert. Die eingehenden Züge kamen Gleis 2 an. Da wurde dann die DB-Lok angehängt und zurückgefahren.
Die Gleise waren untertunnelt, um zum Intershop zu kommen, musste man diesen benutzen. Manchmal nahm ich die Abkürzung über die Gleise, doch das Grenzpersonal hat mich höflich und bestimmt zurückgeschickt und ich musste durch die Unterführung gehen.
Das Grenzpersonal war höflich und korrekt. Sie ließen mich ein oder zweimal auch im Intershop einkaufen, obwohl ich meinen Personalausweis vergessen hatte. In Probstzella war nie Pause. Die Zeit wurde stets als Arbeitszeit gerechnet, auch wenn Verspätungen auftraten.
Einmal, als Rust gerade mit seinem Flugzeug in Moskau gelandet war, habe ich mich lange mit einem einzelnen Grenzposten unterhalten. Er muss ein höherer Offizier, vielleicht der Kommandeur der Grenztruppe gewesen sein, denn die anderen machten einen Bogen um uns beide.
Ich kann mich auch daran erinnern, dass eine Lok eines Tages kurz vor dem Bahnhof Probstzella liegengeblieben ist. Es war kein Problem. Eine Lok von Probstzella hat den Zug dann in den Bahnhof gezogen. Der Umgang mit den Kollegen und den Grenztruppen war immer sehr sachlich und professionell. Ich habe immer nur die Gleise 1 und 2 vom Bahnhof Probstzella gesehen.
Am 30.12.89 bin ich dann das erste Mal nach dem Mauerfall nach Probstzella gekommen. Geplant war, dass wir zurück nach Ludwigsstadt fahren, dort übernachten und am nächsten Morgen mit einer Lok nach Probstzella und dann einen Zug nach München übernehmen. Jetzt hatte ich endlich die Möglichkeit, einmal den Bahnhof in Probstzella zu verlassen. Gegen 20.15 Uhr sind mein Kollege und ich durch den Durchgang in den Ort vorbei an dem Grenzpolizisten. Ein beiderseits „Guten Abend" Es kann so einfach sein. Den Moment sehe ich heute noch, er wird für mich unvergessen bleiben. Wir sind durch die Ortschaft gelaufen, haben dann im Haus des Gastes gegessen, anschließend noch in eine Disco. Die sich, wie praktisch, im Haus mit untergebracht war. Um Mitternacht war das Bier aus. Den Rest dieser unvergessenen Nacht haben wir dann auf den Pritschen im Pausenraum im Bahnhof verbracht.
Ich weiß nicht, wie oft ich in seit diesem 30. Dezember durch Probstzella gefahren bin. Aber diese Bilder , dieser Moment im Durchgang kommt immer.
Fridolin Werner
Für jeden DDR-Bürger gab es damals 100 DM Begrüßungsgeld, der Freistaat schoss 40 Mark hinzu und die reiche Stadt München spendierte den Menschen anfangs noch 50 DM obendrauf. Weil die DDR-Bürger die Sonderzahlung in Anspruch nehmen wollten, führte dies zu einem großen Ansturm auf die Stadt. Die Züge von Hof nach München waren völlig überfüllt.
Ich war damals 37 Jahre alt und als junger Bundesbahnbeamter Kundenberater der Generalvertretung Personenverkehr.
In dieser Funktion musste ich die Kolleg:innen in den Fahrkartenschaltern unterstützen, weil der Andrang auf das Begrüßungsgeld so hoch war. Alle mussten mit auszahlen oder die Schlangen ordnen. Es gab endlose Schlangen.
Der Geldtransport wurde zwar nicht gerade mit der Schubkarre durchgeführt, aber so ähnlich. Es war ein großartiges Gefühl damals. Die Stadt München war euphorisch. Ich glaube, das Fahrkartengeschäft war damals nebensächlich.