Heinrich Bürger gründete am 8. Dezember 1896 die erste freie und älteste Gewerkschaft für Eisenbahner*innen in Deutschland, den Verband der Eisenbahner Deutschlands (VdED). In diesem Jahr kann deshalb die Eisenbahn-und Verkehrsgewerkschaft (EVG) ihr 125-jähriges Gewerkschafts-Jubiläum begehen.
Mitglieder der EVG fragen, wer war eigentlich Heinrich Bürger, der erste Vorsitzende unserer Vorläuferorganisation? Warum hat er eine freie Eisenbahnergewerkschaft gegründet? Was hat er geleistet und welche Motivationen hatte er? Welche Widerstände musste er überwinden? Und warum profitieren wir noch heute von seiner Energie und Kampfkraft?
Heinrich Bürger ist der Wegbereiter für eine freie, unabhängige Gewerkschaft für Eisenbahner*innen. Er hatte den Mut, sich gegen die „Obrigkeit“ aufzulehnen, sich für die damals teils sehr hart arbeitenden Menschen einzusetzen, jede Möglichkeit zu nutzen, die Lebens-und Arbeitsbedingungen der Beschäftigten zu verbessern.
Christian Heinrich Bürger wurde am 16. Januar 1867 in Paderborn als unehelicher Sohn geboren. Seine Mutter, Johanne Wilhelmine Voltmann, verlor jeweils nach der Geburt ihrer beiden unehelichen Söhne ihren Arbeitsplatz. Sie heiratete 1876 den Magdeburger Hotelier Carl Bürger, der seinen Stiefsohn die Realschule in Dresden besuchen ließ. Bürger beendete 1883 die Schulzeit und begann eine Lehre als Handlungsgehilfe in einem Kolonialwarengeschäft. In Dresden kam auch der angehende Kaufmannsgehilfe Bürger mit der Arbeiterbewegung in Berührung. Er besuchte einen Arbeiterbildungsverein. Im September 1886 siedelte Heinrich Bürger nach Hamburg über.
Bürger beteiligte sich an der Gründung des Vereins der Kolonialwarengehilfen, der die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die elenden Arbeitsverhältnisse in dieser Branche zu lenken suchte. Er musste mehrfach seine Arbeitsstelle wechseln. So arbeitete er bei der Post und 1888 als Hilfsarbeiter am Staats-Kai im Hamburger Hafen. Im August 1889 zog Bürger auf das Gelände des Eppendorfer Krankenhauses um und lernte dort als Wärter die lebensfeindliche Behandlung der Kranken und die völlig mangelhafte Ausbildung des Pflegepersonals kennen.
Bürger tendierte in Hamburg zur linken Opposition in der Arbeiterbewegung. Er lehnte jedoch individualterroristische Gewaltakte scharf ab. Sein politisches Weltbild bestimmte die Ideenwelt der Zeitschrift „Freiheit“. Bürgers Sozialismus-Vorstellungen im ökonomischen Bereich waren: Transformation der kapitalistischen Gesellschaftsordnung durch Selbsthilfeeinrichtungen und Genossenschaften. Seine Philosophie: radikale individuelle Freiheitsrechte, Abschaffung jedweder Herrschaft von Menschen über Menschen. Bürger engagierte sich im Lese-und Diskutierclub „Liberal“ und des Sparclubs „Hilfe“ sowie im „Freidenker-Jugendclub zu Hamburg“.
Heinrich Bürger hatte es in seinem kurzen Leben sehr schwer. Er wurde nur 43 Jahre alt und hatte gelernt, sich durchzusetzen und für seine Ziele zu kämpfen. Er war in vielen Arbeitsbereichen tätig. Das hat sein Befähigungsprofil enorm erweitert. Der junge Handlungsgehilfe hatte sich als Autodidakt eine umfassende Bildung erworben und beherrschte den gesamten Kanon der historisch-materialistischen Weltanschauung. Seine charismatische Ausstrahlung und sein mutiges Auftreten machten ihn schnell zum beliebten Agitator.
Er arbeitete seit 1891 als Stationsgehilfe bei der Eisenbahn. Im Januar 1893, nach mehreren Hausdurchsuchungen, wurde Bürger wegen sozialistischer Agitation entlassen. Bürger blieb jedoch der Eisenbahnerbewegung eng verbunden und dokumentierte in der Folgezeit mehrfach publizistisch die unwürdigen Arbeits- und Lebensbedingungen, wobei der entlassene Stationsgehilfe neben den lebensgefährlichen täglichen Arbeitszeiten von 12-14 Stunden, die schlechte Entlohnung, die politischen Repressionen und die grassierende Streberseuche im Beamtenapparat geißelte.
Er trat in 1895 als Mitglied der SPD bei. Bürger engagierte sich für die am 4. Februar 1892 ins Leben gerufene Lokalorganisation „Vorwärts, Verein für Handlungsgehilfen“ und nutzte die Versammlungen des Vereins als Plattform seiner politischen Ideen. Er lehnte die enge Verbindung von Partei und Verein ab und propagierte stattdessen die generelle Unabhängigkeit von Sozialdemokratie und Gewerkschaften. Am 3. März 1893 wurde Bürger in das Hamburger Gewerkschafts-Kartell delegiert, in dem er als Schriftführer alsbald zu einem der dominierenden Gewerkschafter aufsteigen sollte.
Seit seiner Wahl in das Hamburger Gewerkschafts- Kartell referierte Bürger in fast allen Ortsgruppen, Zahlstellen, Filialen, Verwaltungsstellen und Sektionen der Hamburger Einzelgewerkschaften. Seine Hauptthemen waren Arbeitsschutz, Verbrauchergenossenschaften, Boykott, Arbeitsnachweise, Sterbe- und Unterstützungskassen, Arbeiterversicherung, Krankenkassen, Arbeiterausschüsse usw.
Im großen Hamburger Hafenstreik von 1896/97 war Bürger Mitglied der Agitationskommission und einer der feurigsten Debattenredner. Er wollte die kämpferische Stimmung in Hamburg nutzen um nun die Eisenbahner*innen endlich zu organisieren und für die Unterstützung des Streiks werben.
Bürger rief - zunächst gegen den Widerstand des freigewerkschaftlichen Spitzengremiums - am 8. Dezember 1896 die erste Eisenbahnerversammlung seit den Apriltagen von 1890 im Hamburger Stadtteilseite Sankt Georg ein:
Das freie Wort ist uns erstickt. Neben der ungeheuerlichen Ausbeutung empfinden wir die infame Geistesknechtschaft aufs Schwerste.
Diese Versammlung beschloss die Gründung der ersten Eisenbahnergewerkschaft in Deutschland. Bürger selbst bereitete die konstituierende Sitzung vom 13. Januar 1897 im Hamburger Ballhaus inhaltlich vor.
Trotz anfänglicher Ablehnung des Gründungsprojekts finanzierte die Generalskommission das Verbandsorgan. Die Ablehnung gründete auf die Forderung der anderen Gewerkschaften, Eisenbahner selbst (zersplittert) bei sich zu organisieren. Bürgers Wollen nach einer eigenständigen, freien und selbständigen Eisenbahnergewerkschaft war erfolgreich. Seine Taktik lief deutlich darauf hinaus, über radikale Agitation einen Stamm mutiger Eisenbahner zu finden, der sich auch durch Maßregelungen nicht einschüchtern ließ. Missstände, Empörung und ziviler Ungehorsam sollten in einem breiten Gewerkschaftsstrom einmünden.
Nach anfänglichen Erfolgen der Eisenbahnergewerkschaft ging die preußische Eisenbahnverwaltung mit massiven Repressionen gegen die Gründer und Mitglieder vor. Die Behörden drängten den „Verband der Eisenbahner Deutschlands“ quasi als Geheimorganisation in die Illegalität ab und zwar mit allen für die Arbeiterbewegung typischen Folgeerscheinungen wie Maßregelungen, Verfolgungen, Bespitzelungen, Denunziantentum usw. Diese drastische Beschneidung des Kollisionsrechts hatte organisatorische Konsequenzen: Alle aktiven Eisenbahner mussten aus der Verbandsspitze ausscheiden die Leitung bestand seit März 1898 nur noch aus zwei berufsfremden Persönlichkeiten.
Bürger kämpfte nicht nur gegen die Obrigkeit der Eisenbahnverwaltungen, sondern auch gegen Gerichte und Polizeiaktionen, die unter allen Umständen zu verhindern suchten, dass sich Gewerkschaften oder Fachvereine bildeten. Um 1885 begann der polizeiliche Feldzug gegen die Gründung von Vereinen und Gewerkschaften. Aus allen Gegenden des Reiches wurde über Auflösungen und sonstige Schikanen berichtet. Die Verbesserung der Lebens-und Arbeitsbedingungen für Menschen sei sozialistisches Gedankengut und müsse mit allen Mitteln bekämpft werden. Die Eisenbahnverwaltungen, insbesondere die preußische, bedienten sich gut bezahlter Spitzel, Denunzianten, Speichellecker und Byzantiner wie der Volksmund sie bezeichnete und waren bestens informiert.
Auf Versammlungen, die in privaten Bereichen durchgeführt werden mussten, wurden keine Namen genannt, sondern Redner mussten mit Ziffern bedacht werden, um sie vor Maßregelungen zu schützen. Wenn bei Eisenbahner*innen der Aufruf zu einer Versammlung entdeckt wurde, erfolgte eine sofortige „Maßregelung“. Das bedeutete Arbeitsplatzverlust und sofortige Einstellung der Lohnzahlung. Wie viel Mut müssen diese Kolleg*innen aufgebracht haben, um doch die Gewerkschaftsbildung zu ermöglichen.
Auch im Jahr 1896 kam es immer wieder zu Auflehnung und regionalen Streits. Die Obrigkeit antwortete mit Disziplinierung und Entlassung. Vereine der Eisenbahnbeamten und Eisenbahnarbeiter, die untereinander vornehme Distanz hielten und die Pflege des Standesbewusstseins, die die Ergebenheit und Treue zu Kaiser König und Dienstherr zum Ziele hatten, wurde von den Bahnverwaltungen begünstigt. Eisenbahner*innen jedoch welche den Bestrebungen der Sozialdemokratie (bessere Lohn-und Arbeitsbedingungen) zuneigen oder gar förderlich sind, sind mit fester und entschlossener Hand in Verbindung mit der Polizeigewalt zu entfernen. (Anweisung des preußischen Handelsministers an die Präsidenten der Eisenbahndirektionen).
Heinrich Bürger selbst hatte als Vorsitzender des VdED zum Beispiel die unakzeptablen Arbeitsbedingungen der Eisenbahner*innen öffentlich kritisiert. Er wurde zu drei Monaten Haft verurteilt, die er trotz Rechtsmittel antreten musste.
Heinrich Bürger kommt im Schlusswort seines selbst verfassten Buches von 1899, „Die Hamburger Gewerkschaften und deren Kämpfe von 1865-1890“ unter anderem zu dem Ergebnis:
„Im Übrigen zeigt die bisherige Gewerkschaftsbewegung deutlich, dass die Gewerkschaften nicht nur unentbehrlich sind, sondern ihr dauerndes Dasein und ihre weitere Entwicklung zu selbstständigen festen Organismen innerhalb der Gesellschaft von wirtschaftlichen Gesetzen diktiert werden.
Weder der Indifferentismus der Arbeiter noch der Terrorismus der Unternehmer, noch die brutale Gewalt reaktionärer Regierungspolitik konnten die Berufsorganisationen der Eisenbahner und anderer Arbeiter vernichten.
Aus den Krisen und schwersten Niederlagen stiegen die Gewerkschaften allmählich verjüngt wieder empor, gleich dem Phönix aus der Asche. Die Jahre 1865-1878 und 1885-1890, in denen sich die großen sozialen Kämpfe abspielten, sind bedeutsame Marksteine der Arbeitergeschichte und kennzeichnen den Aufstieg zur wirtschaftlich-sozialen Emanzipation.
Für die Geschichte Deutschlands und auch anderer Länder werden die Arbeiterkämpfe zu den wichtigsten Taten zählen, weil jedes Ringen um bessere Lebenshaltung ein Kulturkampf im besten Sinne des Wortes ist.“
Fazit:
Heinrich Bürger war ein außergewöhnlicher Mensch. Er hat, gemeinsam mit der Generalskommission der Gewerkschaften (Vorsitzender Carl Legien) gegen alle Widerstände versucht, die Lebens-und Arbeitsverhältnisse der arbeitenden Menschen in der damaligen Zeit zu verbessern.
Heinrich Bürger war ein unermüdlicher Kämpfer für Recht und Demokratie. Seine feste Überzeugung war: Über Kampf, Bildung, Information und Agitation die Befreiung von der Knechtschaft zu erreichen, die arbeitenden Menschen von den Fesseln der „Obrigkeit“ zu befreien.
Bürger wusste nur zu genau, dass über Solidarität, Kampf und Macht für die arbeitenden Menschen auf Dauer bessere Arbeits- und Lebensbedingungen erreichen werden können.
Aus Heinrich Bürgers Kampf können wir lernen. Dank intensiver gewerkschaftlicher Arbeit haben sich die heutigen Lebens-und Arbeitsbedingungen gegenüber den früheren wesentlich verbessert. Jedoch müssen wir, wie Heinrich Bürger, weiterkämpfen, um erworbene Rechte zu verteidigen und neues Recht zu schaffen, damit wir nicht wieder in alte Zeiten zurückfallen. Aktuell müssen wir auch mit allen Mitteln unsere Demokratie verteidigen.
Autor: Friedrich Rewinkel, Sprecher EVG Geschichte
Neu-Anspach, im Juni 2021