75 Jahre Tarifvertragsgesetz: Eine neue Ära der Arbeitsbeziehungen
Im April 1949 wurde – noch vor dem Grundgesetz – das Tarifvertragsgesetz vom Wirtschaftsrat des Vereinigten Wirtschaftsgebietes der britischen und amerikanischen Besatzungszone beschlossen.
Die Nazis hatten die Gewerkschaften zerschlagen, es gab keine Tarifverträge, sondern nur noch Tarifordnungen; freie Tarifverhandlungen waren verboten. Mit dem Tarifvertragsgesetz startete Deutschland in eine neue Ära der Arbeitsbeziehungen.
Nach der Zerschlagung der Nazi-Herrschaft ging es zunächst einmal um die Bewältigung der Alltagsprobleme: Fabriken und Häuser waren zerstört, die Infrastruktur musste neu aufgebaut und die durch den Krieg entstandenen Schäden beseitigt werden. Viele Männer waren in Kriegsgefangenschaft, Zehntausende Flüchtlinge und Vertriebene strömten nach Deutschland. Die Versorgung der Menschen mit Essen und Wohnraum musste sichergestellt, Betriebe neu aufgebaut werden, demokratische Strukturen mussten errichtet werden.
Die Nazi-Verordnungen und –Gesetze wurden von den Alliierten sofort außer Kraft gesetzt. An deren Stelle traten zunächst Anweisungen und Gesetze der Siegermächte, sie regelten das tägliche Leben.
Es gab weder Gewerkschaften, noch innerbetriebliche Beteiligungsstrukturen. Die aus dem Exil oder dem Krieg zurückgekehrten Gewerkschafter:innen schlossen sich zunächst in kleinen Gruppen und Bündnissen zusammen. Sie übernahmen häufig öffentliche Aufgaben, weil sie nationalsozialistisch unbelastet waren, sie bemühten sich, die Industrieproduktion wieder in Gang zu bringen und die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und Wohnraum zu sichern. Unter ihrer Anleitung organisierten die Belegschaften in vielen Betrieben selbstständig die Produktion, was sich langsam zu einem System von Belegschaftsvertretungen entwickelte.
Zeitgleich begannen die Gewerkschafter:innen mit dem Neuaufbau von Gewerkschaftsstrukturen, teilweise auch gegen den Widerstand der Alliierten. So entstanden einzelne Landesverbände der Gewerkschaften zunächst in der britischen Besatzungszone, dann in der amerikanischen und schließlich auch in der französischen Zone.
In der sowjetischen Besatzungszone wurde gleich nach Kriegsende mit dem Aufbau einer zentralen Gewerkschaftsorganisation dem FDGB begonnen. In der DDR wurde ein anderer Weg beschritten.
Mit der Weiterentwicklung der Gewerkschaftsstrukturen und der Normalisierung des täglichen Lebens widmeten sich die Gewerkschaften auch wieder ihren eigentlichen Aufgaben. Nach und nach wurden tarifpolitische Vorstellungen in den westlichen Besatzungszonen entwickelt. 1948 schließlich hoben die Alliierten ihren verhängten Lohnstopp auf. Schrittweise wurden die Tarifordnungen der NS-Zeit durch Tarifverträge abgelöst.
Das am 09. April 1949 verabschiedete Tarifvertragsgesetz galt zunächst nur für die Länder der britischen und der amerikanischen Zone, ab 1953 dann auch in der französischen Besatzungszone. Das Gesetz gibt noch heute den Rahmen und die konkreten Grundprinzipien zur Ausgestaltung von Tarifverträgen vor; es regelt ein zentrales Gebiet der Arbeitsbeziehungen, nämlich die kollektive Aushandlung der Arbeits- und Einkommensbedingungen.
Mit der Verkündung des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 erhielt nur wenige Wochen nach dem TVG die Tarifautonomie – abgeleitet aus der Koalitionsfreiheit in Artikel 9 Absatz 3 GG – sogar Verfassungsrang.
Das TVG räumt tariflichen Bestimmungen grundsätzlich Vorrang vor betrieblichen Übereinkünften ein. Abweichungen zum Nachteil der Arbeitnehmenden in einzelnen Betrieben - bspw. Vereinbarungen zu längeren Arbeitszeiten, um Arbeitsplätze zu sichern - sind nur zulässig, wenn die Tarifparteien ausdrücklich zugestimmt haben.
Das Tarifvertragsgesetz regelt zudem die Tariffähigkeit und -zuständigkeit der Tarifparteien, die Form des Tarifvertrags und seine Rechtswirkungen. Es gibt insoweit den Rahmen vor, gleichwohl mit konkreten Grundprinzipien zur Ausgestaltung.
In den letzten 75 Jahren hat sich die Tarifpolitik deutlich gewandelt. Aktueller denn je gilt, dass Tarifverträge das wichtigste Instrument sind, um Entgelt- und Arbeitsbedingungen zu verbessern. Neben steigenden Löhnen regeln Tarifverträge hierbei auch innovative Modelle zur souveränen Ausgestaltung von Arbeit und Freizeit. Für die Gestaltung guter Arbeit ist es notwendig, dass Tarifverträge flächendeckende Wirkung entfalten.
Fallen in einer Branche mehr als 50 Prozent der Arbeitnehmer unter einen Tarifvertrag, kann der Bundesarbeitsminister einen bestehenden Branchentarifvertrag für allgemeinverbindlich erklären, wenn die Tarifparteien einverstanden sind. Dann müssen sich auch Arbeitgeber daran halten, die nicht Mitglied im Arbeitgeberverband sind.
Mit dem Wirksamwerden des Beitritts der DDR trat das TVG nach Artikel 8 Einigungsvertrag auch in den neuen Bundesländern in Kraft. Seit diesem Zeitpunkt ist eine Veränderung erkennbar.
Bis Anfang der 90er Jahre waren zwischen 80 und 90 Prozent aller Beschäftigten an einen Tarifvertrag gebunden. Heute arbeitet nur noch etwa jeder zweite Arbeitnehmende in Unternehmen mit Tarifvertrag. Im europäischen Ausland gibt es hingegen mehrere Staaten, wie zum Beispiel Dänemark, die nach wie vor eine Tarifbindung von 80 % haben. Seit Einführung der EU-Mindestlohn-Richtlinie von 2022 gibt es allerdings einen europäischen Rechtsrahmen, der von Staaten mit einer niedrigeren Tarifquote als 80 %, Maßnahmen verlangt, um die Tarifbindung zu erhöhen. Einen Aktionsplan gibt es allerdings noch nicht dazu in Deutschland. Das Jubiläum des TVG könnte ein Anlass sein, einen solchen zu entwickeln. Einfache Maßnahmen könnten schon die Nachwirkung von Tarifverträgen bei Outsourcing oder die Vergabe von öffentlichen Aufträgen nur an Betriebe mit Tarifbindung sein.