EVG-Vorsitzender Alexander Kirchner fordert zum 1. Mai: Die Politik muss die sozialen Abstiegsängste einer wachsenden Zahl von Menschen endlich ernst nehmen
Der Vorsitzende der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG), Alexander Kirchner, hat auf der 1. Mai-Kundgebung in Duisburg mehr soziale Gerechtigkeit eingefordert. „Die Schere zwischen denen, die von ihrem Vermögen in Saus und Braus leben können und denen, die trotz harter Arbeit nicht über die Runden kommen, geht immer weiter auseinander. Das muss sich ändern – das müssen wir ändern", stellte Kirchner fest.
„Im 'Superwahljahr 2017' sind wir deshalb alle gefordert, gegenüber der Politik aber auch gegenüber den Wählern deutlich zu machen, worin wir die großen gesellschaftlichen Herausforderungen für unser Land und für unsere Arbeit sehen - und welche Antworten wir anbieten können", machte Kirchner deutlich.
Die Politik müsse die sozialen Abstiegsängste einer wachsenden Zahl von Menschen endlich ernst nehmen und entschlossen gegen prekäre Beschäftigungsverhältnisse vorgehen. Menschen in einkommensschwachen Arbeitsverhältnissen und sozial Benachteiligte bräuchten insofern eine klare Perspektive auf sichere und gute Arbeit.
Der DGB habe sich in diesem Zusammenhang auf drei Handlungsschwerpunkte konzentriert: "Soziale Gerechtigkeit", "Sichere und gute Arbeit der Zukunft" sowie "Zukunftsinvestitionen in einen handlungsfähigen Staat".
„Soziale Gerechtigkeit ist für uns nicht, wenn Menschen ein Berufsleben lang hart arbeiten müssen und dann die Rente nicht für ein anständiges Leben im Alter reicht", kritisierte Kirchner. Deshalb habe der DGB dieses Thema ganz oben auf die politische Agenda gesetzt. Der Sinkflug des Rentenfaktors müsse gestoppt werden. "Wir wollen nicht runter von 48 auf 35 Prozent, wir wollen rauf, auf mindestens 50 Prozent", machte Kirchner auf der Maikundgebung in Duisburg deutlich.
Zur „Sozialen Gerechtigkeit“ gehöre auch die Rückkehr zur paritätischen Finanzierung der Sozialversicherungssysteme. Vor zehn Jahren sei die hälftige Finanzierung der Gesetzlichen Krankenkassen durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer abgeschafft worden. Seitdem zahlten die Beschäftigten alle Kostensteigerungen allein. "Im Jahr 2016 waren das mehr als 14 Milliarden Euro, das sind rund 350 Euro, die im Jahr auf dem Konto eines jeden Arbeitnehmers fehlen", kritisierte Kirchner.
Der EVG-Vorsitzende forderte auf der Mai-Kundgebung in Duisburg auch eine Steuerreform ein, "eine, die sozial gerecht ist“. "Wir brauchen eine Steuerreform, die untere- und insbesondere mittlere Einkommen entlastet und den Spitzensteuersatz erhöht. Geld ist reichlich vorhanden. Deshalb sagen wir: Starke Schultern müssen endlich wieder mehr tragen", so Kirchner.
Es müsse endlich auch das Vermögen stärker besteuert werden, das durch Finanztransaktionen abgeschöpft werde. Das Ziel sei eine Finanztransaktionssteuer und eine Erbschaftssteuer, die Milliardären keine Schlupflöcher mehr lässt.
Auch im Hinblick auf den zweiten Handlungsschwerpunkt des DGB - sichere und gute Arbeit der Zukunft - machte Alexander Kirchner die Inhalte deutlich, die in den Mittelpunkt der politischen Diskussion gerückt werden müssten. Dazu gehöre unter anderem wieder mehr Tarifbindung.
Die Tarifbindung durch Flächentarifverträge habe in den vergangenen 20 Jahren stetig abgenommen. Waren In Westdeutschland 1996 noch 70 Prozent der Beschäftigten durch einen Flächentarifvertrag gebunden, seien es 2015 nur noch 51 Prozent gewesen. In Ostdeutschland sei die Tarifbindung von 56 Prozent auf 37 Prozent gesunken. Das sei für den DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften nicht hinnehmbar. Gefordert sei deshalb die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen.
Gleichzeitig fordere der DGB "mehr Demokratie in den Betrieben. „Wir wollen, dass die Beschäftigten mitreden können - und wir werden dafür sorgen, dass ihnen zugehört wird", so Kirchner. Entgrenzung von Arbeit sei die neue Herausforderung, für die es mit der zunehmenden Digitalisierung eine Antwort brauche. „Es ist in keinster Weise hinnehmbar, dass in Deutschland Jahr für Jahr fast zwei Milliarden Überstunden geleistet werden – und die Hälfte davon wird noch nicht einmal bezahlt", kritisierte Kirchner.
Eine Milliarde unbezahlte Überstunden – das sei nicht nur unanständig, das sei auch bares Geld. Gerechnet auf den Durchschnittslohn entspräche dies rund 19 Milliarden Euro im Jahr, die sich die Arbeitgeber in die eigene Tasche steckten. "Ist das der Dank dafür, dass die Kolleginnen und Kollegen immer öfter am Abend und an den Wochenenden malochen", fragte Kirchner? "Wir fordern mehr Arbeitszeitsouveränität. Das bedeutet, mehr individuelle Mitsprache bei der Gestaltung der Arbeitszeiten, also mehr Mitbestimmung – und zwar auch bei dem, was in der Arbeitszeit geleistet werden muss", machte der EVG-Vorsitzende auf der Mai-Kundgebung in Duisburg deutlich.
In diesem Zusammenhang sprach sich Alexander Kirchner auch gegen prekäre Beschäftigung aus. Es müsse darum gehen, diese unsicheren Beschäftigungsverhältnisse zurückzudrängen. "Wir brauchen gute Arbeit, die unbefristet und tariflich bezahlt ist – und keine Leiharbeit und keine Minijobs", stellte er fest. Von 32 Millionen abhängig Beschäftigten seien fast zehn Millionen nicht normal beschäftigt. In Deutschland arbeiteten sieben Millionen Minijoberinnen und Minijobber, von denen hätten fast fünf Millionen den Minijob als einzige Beschäftigung. Es gäbe über eine Million Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter, fast acht Millionen Teilzeitbeschäftigte, von denen 4,8 Millionen unter 20 Stunden in der Woche arbeiteten. Fast jede zweite Frau sei in Teilzeit beschäftigt, zudem erhielten Frauen in Deutschland 21 Prozent weniger Gehalt als Männer. In keinem anderen Land der Europäischen Union sei die Entgeltlücke so groß. All das seien Zahlen, die deutlich machten, wie groß der Handlungsbedarf sei.
Der dritte Handlungsschwerpunkt gelte den „Zukunftsinvestitionen in einen handlungsfähigen Staat. Seit Jahren werde in Deutschland an falschen Stellen gespart. An Lehrern. An Kitas. An Polizisten. Bei den Arbeitslosen.
Am Wohnungsbau. An Schulgebäuden und Verkehrsinfrastruktur. Am Breitbandnetz. An der Energiewende. Und. Und. Und… „Der Staat muss finanziell wieder handlungsfähig werden", forderte Kirchner. "Wir brauchen mehr sozialen Wohnungsbau, mehr Geld für Bildung, mehr Geld für innere Sicherheit und staatliche Institutionen aber auch mehr Geld für Infrastruktur", so Alexander Kirchner. Schließlich müsse sich die Personalausstattung des öffentlichen Dienstes an den tatsächlichen Aufgaben orientieren.
„Unser Land ist nicht reich an Bodenschätzen, unser Reichtum sind die Menschen, die bei uns Leben", stellte Kirchner fest. Bildung und Qualifikation seien wichtig, doch daran werde gespart. 7,5 Millionen Erwachsene in Deutschland könnten nicht richtig lesen und schreiben, jeder siebte junge Mensch habe keine Ausbildung, jedes Jahr verließen 50.000 Jugendliche die Schule ohne Abschluss. All das sei ein Skandal!
Auch in die Flüchtlingsfrage müsse "System rein". Sprachförderung und eine vernünftige Ausbildung seien die Schlüsselfaktoren. "Insgesamt brauchen wir einen neuen Anlauf für eine echte Bildungsrepublik", machte Alexander Kirchner deutlich.
Zum Schluss seiner Rede zum 1. Mai appellierte Kirchner an die Anwesenden, bei der anstehenden Landtagswahl, aber auch bei der Bundestagswahl, wählen zu gehen. "Verschenkt Eure Stimme nicht, denn das nützt nur jenen, die unserer Demokratie schaden wollen", machte er deutlich.
Dass es sich zu kämpfen lohne, haben der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften immer wieder gezeigt. „Gemeinsam setzen wir uns für die Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ein. Wir haben viel erreicht und noch viel vor. Wir sind viele - wir sind eins", stellte der EVG-Vorsitzende auf der 1. Mai-Kundgebung in Duisburg fest.