Frühjahr 1945: Das Kriegsende und die Reichsbahn

Vor 70 Jahren, im Frühjahr 1945, endeten der zweite Weltkrieg und die Nazi-Herrschaft. Eine „Stunde Null“, wie früher oft behauptet, gab es aber nicht. Auch und gerade nicht bei der Eisenbahn.

Im März 1945 standen die Truppen der Westalliierten bereits an Rhein und Mosel, die Rote Armee erreichte Pommern. In Berlin wurde der Jahrgang 1929 zur Wehrmacht einberufen, die Soldaten waren 15 Jahre alt. Im Bunker unter der Reichskanzlei unterzeichnete Adolf Hitler einen seiner letzten Erlasse. „Der Kampf um die Existenz unseres Volkes“, heißt es darin, „zwingt zur Ausnutzung aller Mittel, die die Kampfkraft unseres Feindes schwächen und sein weiteres Vordringen behindern. (…) Ich befehle daher: Alle militärischen Verkehrs-, Nachrichten-, Industrie- und Versorgungsanlagen sowie Sachwerte innerhalb des Reichsgebietes, die sich der Feind zur Fortsetzung seines Kampfes nutzbar machen kann, sind zu zerstören.“

Dieser Erlass ging als „Nero-Befehl“ in die Geschichte ein. Befolgt wurde er von der Wehrmacht. Sie setzte auf ihrem Rückzug den „Schienenwolf“ ein, ein Spezialgerät, das an den Schluss eines Zuges angehangen wurde, um das Gleis unbrauchbar zu machen. Nicht befolgt wurde der „Nero-Befehl“ von den Eisenbahnern. Sie hatten anderes zu tun. Bahnanlagen gehörten zu den Hauptangriffszielen der alliierten Luftangriffe. Immer mehr Schäden waren zu reparieren, Linien waren durch zerstörtes Wagenmaterial blockiert. Im Januar 1945 hatte die Reichsbahn den zivilen Schnellzugverkehr eingestellt. Die Reichsbahn war fast nur noch für die an allen Fronten zurückweichende Wehrmacht da. Und für die Flucht aus dem Osten.

Als wir die Bahnstation Deutsch-Rasselwitz erreichten, schlug unsere Hoffnung auf einen baldigen Transport in tiefe Enttäuschung um: Die Bahnsteige waren schwarz vor Menschen. An ein Wegkommen in absehbarer Zeit war unter diesen Umständen nicht zu denken. Es hieß, nur noch ein Zug führe nach Westen, aber wann dieser käme, wisse niemand.

Die Deutschen erlebten das Kriegsende in charakteristischer Weise unterschiedlich. Im Westen gewöhnte sich die Zivilbevölkerung schnell an die britischen und die amerikanischen Soldaten. Im Osten dagegen herrschte Angst. Diejenigen, die man jahrelang als „slawische Untermenschen“ bekämpft hatte, kamen nun als Sieger. Die Saat des nationalsozialistischen Rassenkriegs warf ihre bitteren Früchte ab. Schätzungen zufolge verließen 12 bis 14 Millionen Menschen im Winter 1944/45 die deutschen Siedlungsgebiete im Osten, rund 5 Millionen von ihnen mit der Bahn.

Zu ihnen gehörte die Eisenbahner-Familie Köhler aus Oberschlesien. Im März 1945 wurde ihr Heimatort Heydebreck nach Bombenangriffen evakuiert. Ohne den Vater, er war Lokführer, brachen die Köhlers auf. Engelbert Köhler war damals 12 Jahre alt.

Wir warteten still und lange, doch endlich kam Unruhe in die Menschen und tatsächlich, zuerst nur hörbar, dann Gewissheit: Am Ende des Bahnsteigs tauchte eine mächtige schwarze Dampflokomotive auf. Dahinter ein unglaublich langer Zug. Sehr bald mussten wir aber erkennen, dass die Waggons schon jetzt bis auf den letzten Platz besetzt waren.

In der Menschenmenge treffen die Köhlers einen Freund der Familie, er ist Bahnpolizist. Für sie ein Glück, für ihre Leidensgenossen ein Unglück. Paul Richter deutete kurz entschlossen mit seinem weißen Stock in ein mit Reisegepäck und Menschen geradezu vollgestopftes Abteil: „Sie befinden sich hier in einem Dienstabteil. Räumen Sie dieses umgehend und machen Sie Platz für diese Familie!“ Das Entsetzen in den Gesichtern dieser Menschen verfolgt mich noch heute. Keiner von ihnen wagte, der Amtsperson zu widersprechen. Ich bemerkte, wie meine älteren Schwestern ihre Blicke verlegen abwandten, während sich die Leute, blass und enttäuscht, daran machten, ihre Gepäckstücke auszuladen. Einige von ihnen fluchten verhalten, andere weinten.

Spätnachmittags ging es endlich los. Gut drei Stunden dürften es gewesen sein und es war dunkel geworden, bis wir in Rautenberg/Sudetenland Halt machten und Aussteigen angeordnet wurde. Der Zug war die ganze Strecke sehr langsam gefahren, hielt aber nicht mehr an. Fast alle Bahnstationen waren voll mit wartenden Menschen - dieselben traurigen Bilder, zur Nacht hin ganz besonders bedrückend.

In Rautenberg kampierte die Familie für einige Tage in einem Schulgebäude, ehe der nächste Flüchtlingszug Richtung Bayern rollte. Wir befanden uns jetzt auf dem Weg nach Prag. „Tiefflieger! Tiefflieger!“, schrie jemand und diesmal waren es Amerikaner, die mit mehreren Flugzeugen unseren Zug immer wieder unter MG-Feuer nahmen. Sie hatten es wohl auf die Lokomotive abgesehen und flogen von vorne an. Es krachten die Geschosse aber auch in die Waggondächer und zu beiden Seiten in den Bahndamm. Der Zug stoppte und wir mussten im Kugelhagel weglaufen. Mit diesem Angriff verbinde ich die fürchterlichsten Erinnerungen unserer Flucht: Das Geheul der Jagdflugzeuge, wir auf freiem Feld und im Schmutz liegend. Zischend einschlagende Projektile vor uns in die Erde und pfeifend in die Waggons dahinter. Wie durch ein Wunder blieben wir alle unverletzt und die Lokomotive war offenbar nicht schwer beschädigt, denn schon bald ging es weiter Richtung Prag. Der Zug blieb auch hier nicht mehr stehen und durch die ehemalige Hauptstadt fuhren wir ebenfalls ohne Halt. Es war wieder Nacht geworden. Später erzählte man sich, dass gerade in diesen Tagen Rache übende Tschechen plündernd und mordend über Eisenbahnen hergefallen waren.

Die Fluchtgeschichte der Köhlers endete in Bayern. Hier erlebten sie das Kriegsende im Mai 1945. Doch waren die Schlesier hier nicht willkommen. Die Einheimischen halfen nur allzu gerne, um einen Wagen mit zwei Pferden aufzutreiben. Das Ziel: Über Dresden, Görlitz und Breslau zurück nach Hause. Auf der Höhe von Nürnberg stoppte uns ein amerikanischer Jeep. Nach kurzer Diskussion über unsere Herkunft und unser Reiseziel hieß es schlicht: „No way!“ Wir hatten hinter dem Jeep herzufahren und erreichten bald ein Flüchtlingslager. Das war Ende Mai 1945 und wir sollten mehr als fünf Jahre dort bleiben müssen. Unser Vater, der Lokomotivführer Johann Köhler, wurde in den letzten Kriegstagen von seinem Führerstand herunter gefangen genommen und interniert.

Man hat den 8. Mai 1945 früher als die „Stunde Null“ bezeichnet. Das sollte suggerieren, dass es einen Neuanfang gab und dass man mit den davor liegenden zwölf Jahren nichts mehr zu tun hatte. Doch die Kontinuität war stärker als der Wille zum Neubeginn. Die alten Eliten waren bald wieder die neuen. Alte Eigentumsverhältnisse wurden wiederhergestellt. Der wirtschaftliche Aufschwung und der Anstieg des Massenwohlstandes betäubten alle Ansätze zu kritischer Reflexion. Ein politischer, sozialer und kultureller Wandel wurde erst zwei Jahrzehnte später eingeleitet.

Auch bei der Eisenbahn gab es „keinen Zeitpunkt eines allgemeinen landesweiten Still-stands“, heißt es im Katalog des DB-Museums in Nürnberg. „Denn während der Verkehr am 8. Mai 1945 in weiten Teilen des eroberten Reiches ruhte, rollten in den seit Wochen befreiten Gebieten links des Rheins schon wieder die ersten Versorgungszüge unter Aufsicht der Amerikaner.“


Die Geschichte von Engelbert Köhler hat Hansjörg Hinterreiter aufgeschrieben. Er ist ver.di-Kollege, engagiert sich in der Seniorenarbeit und hat uns seine Aufzeichnungen zur Verfügung gestellt. Herzlichen Dank!