Ortsverband Berlin wird 30
Es war die Zeit des großen Umbruchs, der Veränderungen, der Hoffnungen und Chancen, aber auch der Enttäuschungen. 1991 war in Berlin eigentlich nichts mehr, wie es einmal war. Nicht einmal anderthalb Jahre war der Mauerfall her, die Wiederherstellung der deutschen Einheit gerade einmal wenige Monate, der große Reichsbahner-Streik war ebenfalls erst kurze Zeit vorüber, als sich die Ortsverwaltung Berlin gründete.
Am 26. Januar waren die Delegierten im Lichtenberger Congress Center zusammengekommen, um die Bildung der OV zu beschließen. Damals firmierte sie noch unter dem Namen Gewerkschaft der Eisenbahner GdED. Erster Vorsitzender wurde Karl-Heinz Wagner, seinerzeit Gewerkschaftssekretär, viele kennen ihn unter seinem Spitznahmen „Icke Wagner“, der heute schon leider nicht mehr unter uns ist. Neun Jahre später hieß die Gewerkschaft dann TRANSNET, heute ist daraus, nach dem Zusammenschluss mit der GDBA 2010, die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) geworden – und aus der Ortsverwaltung war der Ortsverband geworden.
Das Motto eines Gewerkschaftstages lautete einst, „Zeiten ändern sich – der Auftrag bleibt“. Und genau das trifft im Kern auch heute auf den Ortsverband Berlin zu. Reiner Bieck, 1991 Gewerkschaftssekretär für die Otrsverwaltung an der Spree, erinnert sich an die Herausforderungen der damaligen Zeit. „Neben dem Aufbau der gewerkschaftlichen Strukturen war die Schaffung einer funktionierenden betrieblichen Mitbestimmung ein wichtiges Thema. Zum Thema Tarifpolitik fällt mir insbesondere der Streit um die Anerkennung der Dienst- und Beschäftigungsjahre und die damit verbundene Kündigungsbeschränkung ein“, sagt Kollege Bieck. Und er hebt das Engagement der Mitglieder hervor: „Das wurde schließlich von der GdED durchgesetzt bzw. eben durch die Mitglieder erstreikt.“
Die Regelung habe dazu geführt, dass „die Reichsbahner nicht wie viele andere Arbeitnehmer in den neuen Bundesländern einfach ihren Job verlieren.“ Damals sei ihm nicht bewusst gewesen, welch weitreichende Bedeutung dieser Kampf gehabt habe. Die tarifliche Situation sei auch nicht einfach gewesen. „Auf einem Stellwerk im Bahnhof Friedrichstrasse haben als Fahrdienstleiter teilweise fünf Kollegen mit unterschiedlichen Tarifen gearbeitet“, betont der damalige Gewerkschaftssekretär. „Ein ehemaliger Reichsbahner mit „Persönliche Zulage Übergeleitete“ (PZÜ), dann ein ehemaliger Reichsbahner aus West-Berlin mit TV V, ein ehemaliger Reichsbahner, der bei der DB gearbeitet hat, ein ehemaliger DB-Mitarbeiter und ein neu eingestellter Mitarbeiter.“ Alle hätten dieselbe Arbeit verrichtet, seien aber unterschiedlich vergütet worden.
„Wenn ich heute an diese Tage, Wochen und Monate zurückdenke, bleibt die Begeisterung aller am gewerkschaftlichen Aufbau Beteiligten besonders im Gedächtnis.“ Dies sei besonders beim bereits erwähnten Arbeitskampf deutlich geworden. „Wir hatten in Berlin eine zentrale Rolle, denn das Eisenbahnnetz in und um Berlin war und ist ein neuralgischer Punkt. Einerseits wollten wir dem Arbeitgeber deutlich zeigen, dass wir mit dem Stand der Tarifverhandlungen nicht einverstanden sind, andererseits mussten wir die Teile der lebenswichtigen Transporte realisieren“, erklärt Bieck.
"Ich kann mich an eine Episode mit einem Stellwerk in Oranienburg erinnern. Dort haben wir per Telefon den Streik ausgerufen, weil ein Militärtransport fahren sollte und dieser wahrlich nicht lebenswichtig ist wie z.B. Kohle und Lebensmitteltransporte.“
Aber nicht nur der Tarifbereich sei anspruchsvoll gewesen. „Ich kann mich auch noch an die vielen tollen Seminare erinnern, die wir organisiert und durchgeführt haben. Sei es Königs Wusterhausen oder an der Ostsee auf dem Flussschiff „Stiller Donn“ in Lauterbach.“
Michael Bartl, heute Vorsitzender des Ortsverbandes, sagt: „Im Laufe der vergangenen 30 Jahre war das Thema Ausschreibung von Verkehrsleistungen, bei der S-Bahn und auch beim Regionalverkehr, immer wieder Thema. Ich befürchte, dass uns das erhalten bleiben wird und wir weiterhin, wie gerade auch aktuell, dort viel Zeit und Arbeit investieren müssen.“
Und den Finger in die Wunde legen will der Berliner OV-Chef auch weiterhin. „Durch den Wegfall des „Berliner Bahn-Tickets“ für den ÖPNV haben sich die Kosten für viele unserer Kolleginnen und Kollegen für den Arbeitsweg deutlich erhöht. Durch die Schaffung des Fonds Mobilität und Wohnen bin ich sicher, dass wir als EVG für unsere Mitglieder hier was Gutes schaffen werden.“
Michael Bartl glaubt zudem, dass sich die Strukturen der EVG weiterentwickeln und neuen Herausforderungen anpassen müssen. Gerade in den Stadtstaaten sei der Aufbau der Gewerkschaft schwierig. „Es macht sicherlich Sinn, in Bayern einen koordinierenden Landesverband zu haben, dort gibt es eine Vielzahl von Ortsverbänden. In Berlin macht das weniger Sinn. Es irritiert z.B. politische Gremien. Diese wissen oft nicht wen sie ansprechen sollen und wer antwortet.“ Hier sei eine Anpassung der Satzung der EVG nötig.
Die Pandemie werde für nachhaltige Veränderungen sorgen, meint Bartl. Die EVG sei bei Kommunikation und Veranstaltungsformen besser geworden. „Der virtuelle Stammtisch kommt trotz fehlender Getränke gut an. Daran sollten wir neben Präsenzveranstaltungen festhalten und werden dies sicherlich auch tun“, kündigt er an. Aber auch hier sieht er Handlungsbedarf. Die Gewerkschaft müsse über die Zuordnung von Mitgliedern nachdenken. Es stelle sich die Frage, ob das Wohnortprinzip richtig sei. „Viele unserer Mitglieder arbeiten in Berlin und wohnen zum Beispiel in Brandenburg. Sie gehören nach den jetzigen Regelungen damit nicht zum Ortsverband Berlin. Sie sind aber hier aktiv und nehmen beispielsweise an Veranstaltungen des Ortsverbandes Berlin teil." Darüber müsse künftig nachgedacht werden.
Auch 30 Jahre nach seiner Gründung ist der Ortsverband eben noch nicht fertig. Das kann er auch nicht und nie sein. Denn natürlich muss sich auch diese Struktur den Anforderungen einer modernen Gewerkschaft, vor allem den Interessen der Mitglieder, anpassen. Zeiten ändern sich eben, aber klar ist auch für die Zukunft: der Auftrag bleibt.