Vorwärts-Interview mit Klaus-Dieter Hommel: "Ein Vor-Corona wird es im Bahnverkehr nicht geben."

Dieses Interview erschien am 12.03.2021 auf vorwaerts.de.

 

Mobilität verändert sich. Die Corona-Pandemie hat diese Entwicklung beschleunigt. Die Bahn könnte Treiber dieser Veränderung sein, ist der Vorsitzende der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG), Klaus-Dieter Hommel, überzeugt. Dafür müsste sie sich aber selbst stark verändern.

Die SPD will bis 2030 in Deutschland „das modernste und klimafreundlichste Mobilitätssystem Europas“ aufbauen. So steht es im Entwurf für ihr Zukunftsprogramm für die Bundestagswahl. Welche Rolle kann die Bahn dabei spielen?

Dieses Ziel begrüßen wir als EVG ausdrücklich. Es zu erreichen, wird aber eine große Herausforderung. Ohne die Bahn wird es dabei nicht gehen. Sie ist das Kernstück eines modernen Mobilitätssystems, in dem ich die Verkehrsträger nicht getrennt voneinander, sondern miteinander vernetzt betrachten würde.

Schon seit Jahrzehnten ist es ein Ziel der Politik, die Attraktivität der Bahn zu steigern, auch um das Passagieraufkommen im Flugverkehr zu reduzieren. Wo hakt es noch?

Wir müssen die einzelnen Verkehrssysteme deutlich vernetzter denken als bisher. Die Mobilität muss viel stärker intermodal gestaltet werden, indem in einer Transport- oder Reisekette mehrere Verkehrsmittel zum Einsatz kommen. Das zu organisieren, ist viel zu oft eine große Herausforderung. Das liegt zum einen daran, dass das Wirtschaftssystem noch viel zu stark wettbewerbsorientiert ist. Für den Bereich der Mobilität bedeutet das schlicht und ergreifend einen Verdrängungswettbewerb, unter dem am Ende meist die Qualität leidet. Heute entscheidet, wer den Verkehr organisiert und nicht so sehr, wer ihn anbietet. Und da sind inzwischen Anbieter wie Google oder Amazon auf dem Vormarsch.

Welche Rolle spielt der „Deutschlandtakt“ dabei?

Der Deutschlandtakt kann Sinn machen. Allerdings wird die Öffentlichkeit über den aktuellen Stand der Umsetzung getäuscht. Der Bundesverkehrsminister hat erklären lassen, dass nun halbstündlich ein ICE von Berlin nach Hamburg fährt und damit der Deutschlandtakt begonnen habe. Das ist Unsinn und hochgefährlich. Den Menschen wird eine Hoffnung gemacht, die nur enttäuscht werden kann. Denn, ein Halbstundentakt allein hat mit dem System des Deutschlandtaktes nichts zu tun.

In den vergangenen Monaten war vieles anders als normalerweise. Wie sehr hat die Corona-Pandemie den Verkehr in Deutschland verändert?

Corona hat zu massiven Veränderungen geführt. Besonders während des ersten Lockdowns waren die Menschen deutlich weniger unterwegs als in der Vor-Corona-Zeit. Das hat sich ja auch beim CO2-Ausstoß bemerkbar gemacht. Das zeigt mir, dass wir ohne weniger Individualverkehr unsere Klimaziele nicht einhalten werden. Leider verschließen viele die Augen davor und gehen davon aus, dass – sobald alle geimpft sind – alles wieder wird wie es vor Corona war. Das ist aber ein Trugschluss.

Inwiefern?

Seit 1990 hat sich das Aufkommen des Personenverkehrs bei der Bahn in Deutschland insgesamt um etwa ein Drittel erhöht. Berechnungen aus der Vor-Corona-Zeit gehen davon aus, dass in den nächsten 20 Jahren ein weiteres Drittel dazukommen wird. Die Bahn und auch die Politik geht davon aus, dass die Kunden einfach wiederkommen werden und alles läuft wie vorher. Ich bin aber sicher: Ein Vor-Corona wird es im Bahnverkehr nicht geben. Viele haben in der Corona-Zeit gelernt, dass Dienstreisen nicht immer sein müssen, sondern es vielleicht auch eine Videokonferenz tut. Das hat auch Auswirkungen auf das private Reisen. Die Bahn muss sich deshalb dringend neue Geschäftsmodelle überlegen.

Woran denken Sie dabei?

Wenn wir heute über Mobilität sprechen, reden wir über Menschen und Güter. Bei der Mobilität der Zukunft wird es viel stärker auch um Daten gehen. Heute sind Daten vor allem ein Mittel zum Zweck, in einigen Jahren dagegen werden sie fester Bestandteil der Mobilität sein, nämlich wenn es um die Frage geht, ob ich als Mensch noch selbst anreisen muss oder ob es auch einfach mein Abbild tut. Die körperliche Mobilität wird dadurch nicht verschwinden, aber sie wird gezielter stattfinden. Verkehrsunternehmen wie die Bahn sollten Mobilität deshalb viel breiter begreifen als bisher und z.B. auch die Zeit vor, während und nach der Zugfahrt organisieren, etwa wenn ein Fahrgast vom Bahnhof noch weiter auf ein Dorf fahren muss, wo gar kein Zug fährt.

Welche Auswirkungen hat das auf das klassische Geschäftsfeld der Bahn, den Transport?

Die Zeiten, in denen der Lokführer mit weißen Handschuhen auf die Lock gestiegen ist, sind ja schon lange vorbei. Als Eisenbahner mit Leib und Seele tut mir das natürlich weh, wie sich auch Berufsbilder verändern. Aber die Entwicklung lässt sich nicht aufhalten. Die Kunden wollen heute etwas anderes als vor 30 Jahren. Wir werden erleben, dass der eigentliche Transport von A nach B in den kommenden Jahren immer billiger werden wird, in manchen Fällen sogar kostenlos. Wir sehen diesen Trend ja bereits bei den Billig-Airlines, wo Flüge bereits jetzt zu Preisen angeboten werden, die die Kosten nicht im Ansatz decken. Sie verdienen ihr Geld auf anderem Wege, etwa indem sie mit Hotels zusammenarbeiten oder mit Autovermietungen verbandelt sind. Das kann ich mir auch bei der Bahn vorstellen. Allerdings schläft sie – ebenso wie die Politik – hier im Moment noch tief und fest. Das ist schade, denn die BahnAG als starkes Unternehmen hätte eigentlich die besten Voraussetzungen, Lokomotive für moderne und umweltfreundliche Mobilität in Deutschland und Europa zu sein.

Im Entwurf für das SPD-Wahlprogramm findet sich ein klares Bekenntnis zur Bahn als „integriertem Konzern“ – eine Forderung, die auch die EVG seit Jahren vertritt. Warum ist das – gerade mit Blick auf die Zukunftsaufgaben – so wichtig?

Der integrierte Konzern ist für uns als EVG nicht verhandelbar. Mir konnte auch noch niemand erklären, welche Vorteile eine Alternative haben könnte. Auch wir wollen die Verkehrs- und die Klimawende, aber ich bin überzeugt, dass sie innerhalb des integrierten Konzerns Bahn gelingen kann. Ganz wichtig ist dafür auch die Durchlässigkeit zwischen den einzelnen Konzernteilen, in denen aber dieselben Regeln gelten. Nur so funktioniert Beschäftigungssicherung und damit der konzernweite Arbeitsmarkt. Es wird ja auch öfter mal vergessen, dass bei der Bahn rund 40.000 Menschen beschäftigt sind, deren Arbeit mit dem eigentlichen Schienenverkehr direkt nichts zu tun hat, die aber für den Betrieb der Bahn unabdingbar ist. Jede Abtrennung oder gar eine Zerschlagung würde dazu führen, dass dieses korrespondierende System infrage gestellt wird. Für eine Fortentwicklung der Bahn und die Menschen in diesem Bereich wäre das verheerend.

Was bedeuten die neuen Ansprüche an Mobilität für die Mitarbeiter*innen der Bahn?

Die veränderten Bedingungen bedeuten für sie in erster Linie, dass sich ihre Berufe und Berufsbilder verändern werden. Dabei darf sie die Bahn als Arbeitgeber nicht allein lassen und auch wir als Gewerkschaft werden die Kolleginnen und Kollegen natürlich bei allen Veränderungen unterstützen. Insgesamt müssen wir deutlich mehr für Ausbildung und Qualifizierung tun. Das wird auch bei den Tarifverhandlungen eine wichtige Rolle spielen – besonders vor dem Hintergrund, dass die Bahn in den kommenden Jahren die Hälfte ihrer Belegschaft ersetzen muss.

Die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GdL) hat gerade 4,8 Prozent mehr Geld rückwirkend zum 1. März gefordert und zusätzlich eine Corona-Prämie von 1300 Euro. Die Bahn hat das bereits als „horrende Forderung“ zurückgewiesen. Wie bewerten Sie das?

Ich bin dagegen, dass Gewerkschaften die Forderungen anderer Gewerkschaften bewerten. Die Art und Weise, wie die GdL zurzeit Politik macht, hat allerdings mit Gewerkschaftsarbeit nichts zu tun. Mein Eindruck ist, dass der GdL die Ergebnisse der aktuellen Tarifrunde vollkommen egal sind. Es muss nur höher sein als der Abschluss der EVG im vorigen Herbst, denn er wird ohnehin nur in sehr wenigen Betrieben gelten. Die GdL muss möglichst viele Mitglieder gewinnen, um ihre Organisation zu retten.

Fakt ist: Die Tarifverträge der EVG werden auch zukünftig in mehr als 90 Prozent aller Betriebe im Bahnkonzern gelten. Mehr als 80 Prozent der Betriebsräte und aller Mitarbeitervertretungen im Bahnkonzern werden von der EVG gestellt. Sie gestalten auch zukünftig die Beschäftigungsverhältnisse. Deshalb spielt die GdL für die EVG auch zukünftig keine große Rolle. Zur Gefahr wird sie allerdings für alle Beschäftigten durch ihre klare Forderung nach einer Zerschlagung des Konzerns. Hier arbeitet sie offensichtlich schon seit langem mit allen auch daran interessierten politischen Kräften intensiv zusammen. Dass wir diese Pläne verhindern werden, hatte ich bereits gesagt.

Der Artikel ist auch direkt im vorwärts zu finden: https://www.vorwaerts.de/artikel/evg-chef-hommel-corona-bahnverkehr-geben