Zum 70. Todestag von Ernst Kamieth

Der alte St. Matthäus-Friedhof liegt mitten im Berliner Stadtteil Schöneberg, eingerahmt von alten Mietskasernen und der S-Bahnstrecke von Oranienburg nach Potsdam. Nach Süden hin zieht sich der Friedhof sanft einen Hügel zur Monumentenstraße hinauf, die direkt zum Kreuzberg führt. Der sich anbietende Blick hat schon so manchen Regisseur zu Szenen für Filme veranlasst. Ganz in der Nähe drehte Wim Wenders Szenen für sein Meisterwerk „Der Himmel über Berlin“

Wer hier zur letzten Ruhe getragen wird befindet sich durchaus in guter Gesellschaft. Die Brüder Grimm sind hier beigesetzt und Rudolf Virchow, Carl Bolle - der berühmte Meierei-Gründer und der Pädagoge Adolf Diesterweg, und schließlich befindet sich hier die letzte bekannte Ruhestätte von Claus Graf Schenk von Stauffenberg, Ludwig Beck und anderen, die sich am 20. Juli 1944 dem Naziregime widersetzten und dafür umgebracht wurden. Die Geschichte dieser Grabstätte wäre einer gesonderten Betrachtung wert.

Nur hundert Schritte von deren Gedenkstätte entfernt, den Hauptweg hinauf befindet sich auf der linken Wegseite das Grab von Ernst Kamieth und seiner Frau Martha. Heute steckt ein grünes Schild im Grab, dass darauf verweist, dass die Ruhezeit abgelaufen sei und die Angehörigen sich in der Friedhofsverwaltung melden möchten. Für Ernst Kamieth dürfte es keine Angehörigen geben. Die 29-jährige Ehe des 1896 geborenen Dienststellenleiters vom Potsdamer Güterbahnhof in Berlin war kinderlos. Er starb am 7. November 1951. Anlässlich seines 50. Todestages schrieb „Inform“ in seiner Ausgabe vom November 2001:

„In Erinnerung : Totschlag vor 50 Jahren

Aus Anlaß des 50. Todestages von Ernst Kamieth, der 1951 ums Leben kam, legten Kollegen an seinem Grab Blumen nieder. E. Kamieth war ein Opfer des Kalten Krieges. Am 6. November 1951 hatte die damalige Reichsbahnführung Beflaggung der Dienstposten aus Anlaß des Jahrestages der russischen Oktoberrevolution angeordnet. Dies galt auch für die Dienststellen der Deutschen Reichsbahn im Westteil Berlins. Mit dem Auftrag das zu verhindern, drang eine Einheit der West-Berliner Polizei in das Gelände des Potsdamer Güterbahnhofs in Berlin ein, in dem Kamieth seinen Dienst ausübte. Der Aufforderung nach Entfernung der Flagge widersetzte er sich mit dem Hinweis, dass es sich um eine dienstliche Anordnung handelte. Darauf ergriff der kommandierende Polizeimajor Zunker einen Besen und schlug so lange auf Kamieth ein, bis dieser tot zusammenbrach.“ 

Über seinen gewaltsamen Tod gab es allerdings unterschiedliche Darstellungen, je nach politscher Position. Das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ vom November 1952 stellte, durchaus widersprüchlich, die Situation etwas anders da. Danach war eine Einheit der Westberliner Bereitschaftspolizei unter Führung des Vorstehers des Polizeireviers 103 Hermann Zunker schon längere Zeit im Kulturraum des Dienstgebäudes auf der Suche nach Traktaten und Plakaten, die sich auf die Feiern zum Jahrestag der Oktoberrevolution bezogen. Dabei wurden sie vom Dienstvorsteher Ernst Kamieth überrascht. „Zunker“, so der „Spiegel“, fragte den Dienstvorsteher: …„was wollen Sie denn hier?’ Darauf Kamieth mit der Würde eines im Dienst ergrauten und für seine Dienstelle verantwortlichen Beamten: ‚Erlauben Sie, ich bin hier der Dienststellenleiter’. Diesen Konflikt der Kompetenzen löste Zunker mit einem Schlag seiner offenen Hand gegen das linke Ohr des neugierigen Eisenbahners. Nach dieser Klarstellung der Machtverhältnisse auf seiner Dienststelle entfernte sich Kamieth…..: ‚Warum schlagen Sie mich denn bloß?’“. Vier Stunden später sei Ernst Kamieth während der Feierstunde zur Oktoberrevolution bewusstlos zusammen gebrochen und auf dem Weg in ein Krankenhaus verstorben.

Die amerikanische „Neue Zeitung“ schrieb nun:  „Die Westberliner Polizei hatte dazu schon am Donnerstag erklärt, am Jahrestag der Oktoberrevolution sei kein Polizeibeamter auf dem Potsdamer Güterbahnhof gewesen.“ 

Der Landesverband Westberlin der „Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands“ erklärte: „Bei einer Feierstunde zum Jahrestag der bolschewistischen Oktoberrevolution ist es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen der SED angehörenden Eisenbahnern und Kamieth gekommen….. Nach erregten Debatten ist Kamieth zusammengebrochen. Kamieth ist schon seit längerer Zeit wegen zu hohen Blutdrucks in ärztlicher Behandlung“. 

Die Industriegewerkschaft Eisenbahn im FDGB, die für die in Westberlin befindlichen  Beschäftigten der Deutschen Reichsbahn der DDR zuständige Gewerkschaft, rief nunmehr dazu auf „…gegen den ständig zunehmenden Terror der Stummpolizei (Stumm war der damalige Polizeipräsident in Westberlin) die Aktionseinheit der Eisenbahner zu festigen“.

Wie immer auch der präzise Ablauf des Ereignisses war, es verblieb die Tatsache, dass Kamieth vom Polizeiinspektor Zunker ohne wirklichen Anlaß geschlagen worden war und es durch den oder die Schläge einen unmittelbaren Zusammenhang mit dem Tod Ernst Kamieths gab.

Ernst Kamieth sollte nun auf dem Alten St. Matthäus-Friedhof beigesetzt werden, musste aber dazu aus der Ostberliner Charité, wohin er zur Obduktion gebracht wurde erst nach Westberlin überführt werden. Dazu der „Spiegel“: „Das Westberliner Polizeipräsidium gestattete ein Trauergefolge von 20 Personen, das keine 

Transparente mit sich führen dürfe, und die Kranzschleifen dürften keine politische Tendenz haben. Aber als dann der Tag der Beerdigung war, standen auf Ostseite der Sektorengrenze dreißigtausend Leute, die… (Kamieth)… zu  Grabe tragen wollten’. Die Westberliner Polizei sperrte zwar die Sektorengrenze ab. Da trugen die Kommunisten (!) den Sarg auf Ostsektorengebiet in eine U-Bahn (hier ist vermutlich eher die S-Bahnstrecke der Nord-Süd-Bahn, die heutige S 1 gemeint) und rollten mit ihm und großem Trauergefolge unter der Polizeikette hindurch in den Westen.“

Hermann Zunker wurde zunächst am 30. November 1951 bis zum 5. Dezember in Haft genommen. Am 10. Januar wurde er erneut ins Untersuchungsgefängnis gesteckt, aber auch dann alsbald wieder freigelassen. Der damalige Kommandeur der Westberliner Schutzpolizei Oberst a.D. Erich Duensing erklärte dazu im Stile eines Tagesbefehls: „Die gegen den Inspektor der Schutzpolizei Zunker verhängte Haft wurde am 21. März 1952 aufgehoben…. Wir alle wollen dankbar zur Kenntnis nehmen, dass die im Kampf um die Erhaltung der Demokratie in vorderster Reihe stehenden Angehörigen der Schutzpolizei stets Verständnis und Wohlwollen nicht nur beim Parlament, sondern auch bei der Justiz finden werden. Die wollen wir bei allen zukünftigen Einsätzen nicht vergessen“. Das hat Herr Duensing auch nicht. Jahre später, als es in Berlin am 2. Juni 1967 zu Protesten vor der Deutschen Oper gegen den Besuch des Schah von Persien kam, begründete er als Polizeipräsident  und Einsatzleiter der Bereitschaftspolizei die berüchtigte „Leberwursttaktik“, die er so beschrieb: „Nehmen wir die Demonstranten als Leberwurst, dann müssen wir in die Mitte hineinstechen, damit sie am Ende auseinander platzt.“ Bei dieser Demonstration wurde der Student Benno Ohnesorg von einem Zivilfahnder der Polizei durch einen aufgesetzten Schuß in den Hinterkopf erschossen. Das ist aber eine andere Geschichte.

Zunker selbst, wenngleich im Jahre 1954 zu 22 Monaten Haft verurteilt, die er jedoch nie anzutreten brauchte, hatte einiges an Unterstützung erfahren. Selbst die Gewerkschaft der Polizei beschloß am 8. Dezember 1951, daß der Vorstand berechtigt sei dem „Kollegen“ Zunker „…nach gründlicher Kenntnisnahme des Falles…, auch wenn er nicht Mitglied ist, Rechtsschutz zu gewähren“. Diesem Beschluß lag allerdings die Befürchtung zugrunde ‚…dass der Fall Zunker noch dunkle Punkte habe’. 

Und die hatte er sicher. Zunker, zwar nicht Mitglied der Gewerkschaft der Polizei, war jedoch Mitglied des „Schraderverbandes“. Dieser 1915 gegründete „Verband der Kameradenvereine“ mit zunächst 6000 Polizisten als Mitglieder wurde von Ernst Schrader geführt. Am 17. Mai 1935 wurde dieser Verband aufgelöst. Ihr Vorsitzender Ernst Schrader wurde schon am 8. September 1933 in das KZ Sachsenhausen verschleppt. Im Juli 1936 verstarb er an den Folgen der Haft. 

In den Mitgliederlisten des Verbandes befand sich auch ein Mann namens Bruno Sattler. Sattler war seit 1933 Mitarbeiter der Gestapo, ab Oktober 1941 Ordonanzoffizier in einer Einsatzgruppe des Sicherheitsdienstes der SS (SD), die die Vernichtung der Juden auf dem eroberten Territorium der Sowjetunion organisierte. Im Februar 1942 wurde er Gestapochef von Belgrad und als solcher der Mann, der die berüchtigten Gaswagen erfand, in denen Juden ermordet wurden, bevor es die fabrikmäßige Vernichtung der Juden in den großen Vernichtungslagern des Ostens gab.

Der 1935 aufgelöste „Schraderverband“ wurde 1948/49 als „Verband der Polizeibeamten e.V. (ehemals Schraderverband)“ wieder begründet. Geschäftsführerin des Verbandes wurde Elfriede Sattler, Ehefrau des nunmehr in der DDR als Kriegsverbrecher auf lebenslang Inhaftierter, und unter nicht geklärten Umständen 1972 in der Leipziger Haftanstalt verstorben. In diesem nun wieder gegründeten Verband war auch Hermann Zunker ab ca. 1949 Mitglied. Der Verband löste sich erst etwa 1964 auf. Wie man sieht, hängt Vieles mit Vielem zusammen.

Kleine Nachgeschichte am Rande: Mitte der fünfziger Jahre ergriffen die Zollmitarbeiter der DDR an der Grenze nach Westberlin, auf dem S-Bahnhof Treptower Park eine Frau, die unter Ausnutzung des Wechselkurses von einer D-Mark zu fünf Ostmark nach Ostberlin gefahren war und hier für zuvor „illegal“ getauschte hunderte Ostmark hochwertige Lebens- und Genussmittel eingekauft hatte. Um damit ungesehen über die damals noch offene Grenze nach Westberlin zu kommen, hatte sie sich in einem weiten Mantel zahlreiche Innentaschen eingenäht, in die sie die erworbenen Waren zum Zwecke des Schmuggelns versteckte. Als man sie jedoch ergriff, verständigte der Ostberliner Zoll umgehend die Ostberliner Presse und ließ dann die Verhaftete genüsslich vor den zahlreich klickenden Kameras den präparierten Mantel öffnen, so dass sie mit der „Konterbande“ deutlich sichtbar wurde. Bei der Frau handelte es sich um die Gattin von Hermann Zunker.

Quellen:

  1. „Der Spiegel“, 29. Oktober 1952
  2. Wikipedia
  3. Beate Niemann: „Mein guter Vater“ Eine Täterbiographie, 2005 bei Hentrich und Hentrich 
  4. Bundesbeauftragte für die Stasiunterlagen (BStU)