Genussland Thüringen? In Gotha sieht das so aus: Auf dem Bahnhof empfängt den Ankommenden ein Aufsteller des Bahnhofs-Imbisses, auf dem ein Drei-Gänge-Menü für 2 Euro angepriesen wird. Die drei Gänge sind: Bratwurst, Brötchen, Senf.
Will man hier speisen? Eher nicht, meint Marco Hose. „Wenn man als Reisender hier ankommt, ist man gleich satt“, sagt der Vorsitzende der EVG-Betriebsgruppe von DB Fahrzeugdienste. Er stammt aus Gotha und hat als Betriebsratsmitglied auch heute noch ab und zu im Bahnhof seiner Heimatstadt zu tun. Und den sieht er in einem „fürchterlichen Zustand“. Von den Wänden bröckelt der Putz, auf dem Boden sind einzelne Fliesen herausgebrochen, in den Ecken sammelt sich Schmutz, es gibt keine Toiletten, die ehemaligen Fahrkartenschalter sind geschlossen, aufgrund von Vandalismusschäden sind derzeit die Zugzielanzeiger außer Betrieb. „Der Bahnhof in Gotha ist für mich ein Bahnhof des Grauens“, lautete eine der zahlreichen Zuschriften, die uns auf unseren Aufruf hin erreicht haben. „Das ist eine Schande für die Bahn!“
„Auch als Eisenbahner ist man beschämt“, sagt Marco Hose. „Die Bahnhöfe in Erfurt oder Eisenach sind ganz andere Nummern, da fühlt man sich wohl. Aber hier ganz bestimmt nicht."
Die Crux: Der Bahnhof Gotha ist bereits vor über zehn Jahren an einen Investor verkauft worden, der das Gebäude aber offenbar sich selbst – und dem schleichenden Verfall überlässt. Auch das ein frappantes Beispiel dafür, wie der Sektor Schiene kaputtgespart worden ist: Ein Investor, der nicht investiert, ein Zugzielanzeiger, der keine Züge anzeigt – und ein Bahnhof (fast) ohne Eisenbahner*innen, jedenfalls ohne solche, die mit den Fahrgästen in Kontakt treten. Nachdem es anfing, in das Reisezentrum hineinzuregnen, wurde dasselbe nicht etwa renoviert – sondern geschlossen. „DB Vertrieb war immer bemüht für ordentliche Arbeitsbedingungen für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sicherzustellen“, sagt Mario Noack, stellvertretender BR-Vorsitzender bei DB Fernverkehr Erfurt/Leipzig und Landesvorsitzender der EVG Thüringen. „Der Besitzer des Bahnhofs hat aber keine Reparaturen durchgeführt und die Zustände der Räumlichkeiten des Reisezentrums haben sich immer mehr verschlechtert.“ Die Kolleginnen und Kollegen arbeiten jetzt nebenan in einem kleinen Büro, das DB Vertrieb in dem neugebauten Busbahnhof angemietet hat.
Auch als Eisenbahner ist man beschämt.
„Die DB und die Stadt Gotha sind auch alles andere als glücklich mit dem Zustand“, sagt Mario Noack. „Bahnseitig ist auch schon versucht worden, was zu machen, aber es ist offenbar kein Rankommen an den Eigentümer.“ Wer das ist, möchte die Stadt übrigens „aus datenschutzrechtlichen Gründen“ nicht nennen.
„Nicht nur bei der chronisch unterfinanzierten, betriebsnotwendigen Infrastruktur, sondern auch bei den Empfangsgebäuden hat ein signifikanter Substanzverlust stattgefunden“, heißt es im Positionspapier „Mehr Bahn für die Menschen“ der EVG. „Der öffentlich wahrgenommene Verfall der Empfangsgebäude trägt maßgeblich zum schlechten Gesamtbild der DB AG und des Schienenverkehrs insgesamt bei. Wenn der Betrieb der unwirtschaftlichen Empfangsgebäude weiterhin politisch gefordert ist, z. B. um ländliche Regionen infrastrukturell nicht weiter zu schwächen, müssen die Instandhaltung der Anlagen bzw. Ersatzinvestitionen angemessen finanziert werden.“
280 Jahre lang war Gotha Residenzstadt. Von dieser Epoche zeugt heute noch Schloss Friedenstein mit Englischem Garten, Museum und Barocktheater. Gotha war aber auch eine Industrie- und Arbeiterstadt, und 1875 wurde hier die Sozialistische Arbeiterpartei (SAP) gegründet, eine der Vorläuferorganisationen der SPD. Es mag also Gründe geben, die Stadt zu besuchen, auch um die wunderbare Umgebung wandernd zu erleben. Die EVG setzt sich dafür ein, dass es irgendwann auch mal wieder Spaß machen wird, die Stadt mit der Bahn zu besuchen. Auch dafür kämpfen wir mit unserer Kampagne „Mehr Bahn für die Menschen“.