„Einige haben sogar geweint“, sagt Monique Schulz. Man merkt der 27-Jährigen auch nach Tagen noch an, wie nahe ihr und allen anderen Beschäftigten die Mitarbeitenden-Versammlung gegangen ist, zu der die Werksleitung am 19. März im Werk Delitzsch eingeladen hatte.
„Wir wussten von nichts. Keiner war darauf vorbereitet, dass hier zum Jahresende Schluss sein soll“, ergänzt Carsten Hesse. Das wurde den Beschäftigten um 12:39 Uhr mal eben so in der Mittagspause mitgeteilt - obwohl die Auftragsbücher voll seien.
Der Werke-Bereich soll im Rahmen des S3 Konzernsanierungsprogramms wirtschaftlicher arbeiten. Das hat der DB Vorstand festgelegt. Dazu bedarf es aber einer gesamthaften Strategie und keiner Einzelentscheidungen. „Arbeit ist immer noch für alle da. Sie muss nur sinnvoll verteilt werden“, sagt Ronald Ditte, Vorsitzender der Zentralen Fachgruppe Werke der EVG.
In den insgesamt bundesweit elf Werken der schweren Instandhaltung können jährlich 9 Millionen Fertigungsstunden erbracht werden. Derzeit sind es insgesamt 6,5 Millionen, die tatsächlich abgerufen werden. Deutlich rückläufige Gütertransporte auf der Schiene, aber auch eine Reduzierung im Angebot des Fernverkehrs sind Gründe, warum einige Werke nicht mehr richtig ausgelastet sind.
Für Delitzsch trifft das nicht zu. „Hier arbeiten echte Spezialisten, deren Wissen und Können europaweit gefragt ist“, macht Prüftechniker Leopold Tschense deutlich. Über die Jahre habe man sich eine hohe Fachkompetenz erarbeitet, die ihresgleichen suche und entsprechend nachgefragt werde. Doch das zähle offensichtlich nicht.
Seit mehr als 100 Jahren schreibt man in Delitzsch Eisenbahngeschichte. Schon einmal sollte die hochkomplexe Instandhaltung unterschiedlicher Bremsanlagen dicht gemacht werden. „Vor fünf Jahren war das“, erinnert sich Kai Lehmann, der schiebergesteuerte Bremsventile wartet. Da habe die Geschäftsführung der Fahrzeuginstandhaltung einen Prüfauftrag zur Migration der Leistungen von Delitzsch nach Fulda in Auftrag gegeben. „Auch damals haben wir uns gewehrt“, sagt er mit kämpferischem Stolz in der Stimme. Nach akribischer Prüfung stand dann fest: Es funktioniert nicht mit der Übertragung der Leistungen von Delitzsch nach Fulda. Von Schließung war fortan keine Rede mehr.
Stefan Möller, Betriebsratsvorsitzender im Werk Fulda, deren Außenstandort Delitzsch ist, findet, dass sich daran bis heute nichts geändert hat. „Das Management betrachtet wieder mal nur die nackten Zahlen und blendet alles andere aus“, kritisiert er.
Als schwer nachvollziehbar wird in diesem Zusammenhang so manche Entscheidung des Managements empfunden. So müssen Bremskomponenten, die zufriedene Kunden schon immer direkt in die Werkstatt nach Delitzsch geschickt haben, seit einiger Zeit von Delitzsch nach Hünfeld gebracht werden, um dort im Lager und System erfasst zu werden. „Das gilt auch für alles, was wir von RailMaint erhalten, auf deren Werksgelände wir arbeiten“, meint Carsten Hesse, der Bremszangen instandsetzt. „Die reichen ihr Material quasi übern Flur …“
Von Hünfeld gehen die Aufträge wieder zurück nach Delitzsch, wo dann erst die notwendige Instandsetzung erfolgt und anschließend ins Werk nach Fulda, der Qualitätsprüfung wegen. „In der Zeit haben wir früher die Bremskomponenten schon repariert“, sagt Carsten Hesse. Stattdessen fährt heute jeden Tag ein Lastwagen mit Material die 285 Kilometer von Delitzsch nach Hünfeld - und zurück.
Das Management betrachtet wieder mal nur die nackten Zahlen und blendet alles andere aus.
Stefan Möller, Betriebsratsvorsitzender im Werk Fulda
Und doch soll alles profitabler werden. So hielt man es bei der DB AG offensichtlich für eine gute Idee, die Miete für die Werkstattgebäude in Delitzsch einsparen zu wollen. Schließlich könne die Instandhaltung von Bremsanlagen künftig auch in Fulda erfolgen. „Dass bei der Wirtschaftlichkeitsberechnung zusätzlich zur Einsparung von Mietkosten auch noch die Einsparung von Betriebsnebenkosten mit eingerechnet wurde“, kritisiert Stefan Möller, Betriebsratsvorsitzender vom Werk Fulda, zu dem Delitzsch gehört. Damit fange die Milchmädchenrechnung schon an.
Viel schlimmer aber sei, dass die DB AG durch die beabsichtigte Schließung ein hohes Maß an Fachkompetenz und außergewöhnlichem Know-how verlieren werde. „Von Delitzsch nach Fulda fährst Du mit der Bahn gut drei Stunden, mit dem Auto sogar noch länger. Wer meiner Kolleginnen und Kollegen wird sich das antun“, fragt er?
Natürlich wollen die betroffenen 50 Kolleginnen und Kollegen auch weiterhin möglichst wohnortnah arbeiten. Nach Fulda würden wohl nur die wenigsten wechseln. „Wir haben dann die Arbeit, aber es fehlen uns die Spezialisten, die wir brauchen, um die Kundenaufträge fachgerecht umzusetzen“, betont Stefan Möller. Das sei das Ergebnis, wenn Entscheidungen nur anhand von Zahlen und ohne Einbeziehung der Betroffenen gefällt würden.
Wir erwarten ein klares Bekenntnis zu unseren Werken und ihrer Bedeutung im Gesamtverbund.
Ronald Ditte, Sprecher der Zentralen Fachgruppe Werke
Deshalb fordert die Zentrale Fachgruppe Werke der EVG eine umgehende Beteiligung aller Gremien der Arbeitnehmervertretungen. Deren Fachwissen müsse eingebracht werden, um zu tragfähigen Lösungen im Sinne der Kolleginnen und Kollegen kommen zu können. „Wir wollen ein starker Hebel und Schlüssel im Veränderungsprozess sein“, so Ronald Ditte, Sprecher der Zentralen Fachgruppe Werke. Es reiche nicht aus, den Gremien im Sommer ein Ergebnis vorzulegen, zu dem man lediglich Ja oder Nein sagen könne. Gefordert sei frühzeitige Transparenz und Beteiligung. „Unser Ziel muss eine tragfähige Lösung für alle Werke sein - mit klaren Perspektiven für die Beschäftigten und zukunftsfähigen Konzepten für jeden Standort. Wir erwarten ein klares Bekenntnis zu unseren Werken und ihrer Bedeutung im Gesamtverbund“, so Ditte.
Ob Delitzsch weiter dazugehört? „Wir halten es hier mit Bertolt Brecht“, sagt Kai Lehmann. „Wer kämpft, kann verlieren, wer nicht kämpft, hat schon verloren“, hat der deutsche Dramatiker einst festgestellt. Und kämpfen wollen sie weiter. Das wurde auch auf der außerordentlichen Teil-Betriebsversammlung deutlich, die - wie Teilnehmende berichteten - „äußerst emotional“ verlief. Insbesondere die eklatante Missachtung von Mitbestimmungsrechten wurde immer wieder lautstark kritisiert. In schwarzen T-Shirts - mit dem Aufdruck „Für EUCH nur ein Standort – für UNS eine Heimat. / 50 Familien - 50 Existenzen - 50 Gründe zu kämpfen“ - saßen die Kolleginnen und Kollegen der Geschäftsleitung gegenüber und machten so eindrucksvoll deutlich, was sie bewegt: Es geht um 50 ganz persönliche Lebensbiografien, die aus vermeintlich rein wirtschaftlichen Erwägungen unvermutet weitreichenden Veränderungen unterworfen werden.
„Um mich müssen sie sich noch kümmern“, sagt Monique Schulz, die seit dem 1. Dezember 2024 in Delitzsch beschäftigt ist. Sollte zum 1. Januar 2026 wirklich Schluss sein, ist die 27-Jährige genau zwei Jahre dabei. „Dann schützt mich der Demografie-Tarifvertrag der EVG vor Arbeitsplatzverlust.“ Weniger „Glück“ hat Alexander Drewitz. Er arbeitet erst seit Juli 2024 als Zerspaner; da fehlen noch ein paar Monate zum „Kündigungsschutz“.
Von ihrem Arbeitgeber fühlen sich die Beschäftigten ziemlich alleingelassen. „Man will uns loswerden“, heißt es in der Werkstatt. Nur einen Tag, nachdem die beabsichtigte Schließung verkündet worden war, habe DB JobService vor Ort massiv für neue Arbeitsverträge im Werk Fulda geworben. Als besonderen Service hätten das die wenigsten empfunden, eher schon als Nötigung.
Ihr bisheriges Zuhause wollen die wenigsten aufgeben, sollte es tatsächlich zur Schließung kommen. Doch aufgrund der insgesamt schwierigen Lage bei allen anderen Werken ist das nicht so einfach. Zudem werde der Betriebsrat, aufgrund des straffen Zeitplans, massiv unter Zeitdruck gesetzt. „Noch haben die Verhandlungen zum Interessenausgleich nicht begonnen, da sind ab Juni schon erste Verlagerungen von Infrastruktur und Anlagen geplant“, kritisiert der Fuldaer Betriebsratsvorsitzende Stefan Möller.
Umso wichtiger ist die Solidarität innerhalb der EVG. Und die ist beeindruckend groß. Jüngst erst hatten die Auszubildenden aus der Fahrzeuginstandhaltung im benachbarten Dessau mit einer entschlossenen Lärmaktion deutlich gemacht: „Wir stehen zusammen, wir kämpfen gemeinsam - denn ohne unsere Werke rollt kein Zug!“
Es wäre völlig falsch, jetzt nur auf die nackten Zahlen zu schauen. Das politische Ziel bleibt, mehr Verkehr auf die Schiene zu bringen.
Kristian Loroch, Stellvertretender EVG-Vorsitzender
Dass die Züge weiter rollen – vor allem aber die Arbeitsplätze erhalten bleiben – ist auch dem für den Bereich Mitbestimmung zuständigen stellvertretenden Vorsitzenden der EVG, Kristian Loroch, wichtig. Er warnte eindringlich vor kurzsichtigen Entscheidungen. „Es wäre völlig falsch, jetzt nur auf die nackten Zahlen zu schauen. Das politische Ziel bleibt, mehr Verkehr auf die Schiene zu bringen. Mehr Verkehr bedeutet dann auch mehr Arbeit für die Werkstätten“, betonte er.
Ein Blick zurück zeige, dass es bei der Bahn immer wieder Phasen gegeben hätte, in denen Werke geschlossen werden sollten und man nur wenige Jahre später entsprechende Entscheidungen wieder zurückgenommen habe. „Weitsicht ist jetzt gefordert und ein zukunftsweisendes Gesamtkonzept für alle Standorte“, forderte Loroch. Das könne nur gemeinsam erarbeitet werden. „Deshalb fordern wir die umgehende Beteiligung aller Gremien der Arbeitnehmervertretung.“ Dem Arbeitgeber müsse klar sein: „Unsere Werke sind uns jeden Kampf wert“.