„Lasst Euch nicht einreden, dass hohe Lohnforderungen automatisch zur Inflation führen. Das lässt sich aus uns vorliegenden Statistiken keinesfalls herauslesen“. Mit dieser klaren Aussage räumte Reinhard Bispinck in der jüngsten „Zukunftswerkstatt“ mit einem häufig vorgebachten Argument der Arbeitgeberseite auf.
Der Vertreter des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung erläuterte vor rund 100 Mitgliedern der unterschiedlichsten EVG-Tarifkommissionen die Tarifentwicklung der vergangenen Jahre in Deutschland. „Schauen wir uns an, wie sich die Preise und die Produktivität in den vergangenen 20 Jahren entwickelt haben, können wir festhalten, dass in einigen Tarifrunden vorhandene Potentiale nicht vollständig ausgeschöpft wurden. Da wäre, im Nachhinein betrachtet, durchaus mehr drin gewesen“, machte er deutlich.
Zudem könne festgehalten werden, dass sich die Schere zwischen Löhnen und Profiten wieder öffnet. Die Arbeitnehmerentgelte stiegen nicht so rasch an, wie die Vermögenswerte der Unternehmen. Insofern sei es legitim zu fordern, dass die Arbeitgeberseite in schwierigen Zeiten mehr Verantwortung übernimmt. „Höhere Löhne müssen nicht automatisch zu Preissteigerungen führen, das ist kein Naturgesetz“, so Reinhard Bispinck. Unternehmen könnten ihre Gewinnerwartung durchaus reduzieren oder zeitweise ganz darauf verzichten.
„In diesem Zusammenhang von einer Lohn-Preis-Spirale zu sprechen ist noch so ein Unding“, stellte Reinhard Bispinck vom WSI fest. Richtigerweise müsse man von einer Preis-Lohn-Preis-Spirale sprechen, denn die Forderung nach höheren Löhnen resultiere in der Regel aus zuvor gestiegenen Preisen. Insofern sei der Einschätzung der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher zuzustimmen. Der hatte festgestellt: „Die Löhne müssen erhöht werden“ - aus einem ganz profanen Grund: „Damit der Konsum weiterhin aufrechterhalten werden kann. Denn wenn das nicht passiert, dann werden viele Unternehmen in Schwierigkeiten kommen. Die Arbeitslosigkeit wird steigen und dann kommen wir ganz im Gegenteil in eine Spirale aus immer schwächerem Wachstum und hoher Inflation, und ich glaube, das kann auch nicht das Ziel sein."
Höhere Löhne müssen nicht automatisch zu Preissteigerungen führen, das ist kein Naturgesetz.
Dass in der Tarifrunde 2023 die Forderung nach mehr Geld im Vordergrund stehen wird, stand für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer außer Frage. In zwei Workshops wurde gemeinsam erarbeitet, wie eine mögliche Priorisierung erfolgen könnte. Soll es eine reine Lohnforderung geben? Sollen vom Volumen auch Prozente, beispielsweise in die Verbesserung der Entgeltstruktur fließen – und wenn ja, in welche Bereiche? Wie wichtig sind den Mitgliedern der EVG darüber hinaus die Leistungen der beiden Fonds, eine Verbesserung der arbeitgeberfinanzierten betrieblichen Altersvorsorge oder das Thema „besondere Teilzeit im Alter“?
Grundlage für dieses erste Votum der TK-Mitglieder war ein umfassendes „Brainstorming“ auf der ersten Zukunftswerkstatt zur Tarifrunde 2023. Da hatten sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer umfassend Gedanken gemacht, welche Forderungen 2023 eine besondere Relevanz haben könnten. Alle Nennungen aus der letzten Zukunftswerkstatt im November 2022 waren für die aktuelle Zukunftswerkstatt geclustert und unter verschiedenen Überschriften zusammengefasst worden.
„Ihr habt wichtige Hinweise gegeben, in welche Richtung sich eine mögliche Tarifforderung entwickeln kann“, machte EVG-Vorstand Kristian Loroch am Ende der Zukunftswerkstatt deutlich. Die Ergebnisse werde man mitnehmen, um sie bei sechs regionalen Veranstaltungen mit den Mitgliedern zu diskutieren (siehe Aushänge unten). Bei der nächsten Zukunftswerkstatt im September werde man konkreter werden, auf der Zukunftswerkstatt im November dann die zentralen Forderungen finalisieren, über die in der Mitgliederbefragung abgestimmt werden soll. Diese ist für die Monate Dezember 2022/Januar 2023 vorgesehen. Der Forderungsbeschluss zur Tarifrunde 2023 werde dann im Februar 2023 erfolgen. „Die Zeit bis dahin werden wir nutzen, uns weiter intensiv auszutauschen und unsere Mitglieder zu beteiligen“, so Kristian Loroch.
„Gemeinsam geht mehr“ – stellte er fest; mit diesem Slogan werde die EVG in die Tarifrunde 2023 starten. Erstmals werde nahezu zeitgleich für alle Unternehmen im Organisationsgebiet verhandelt; in dem wir für einander einstehen und uns gegenseitig unterstützen würde einmal mehr deutlich, dass es sich lohnt Gemeinschaft zu leben.
Der entsprechende Slogan zur Tarifrunde 2023 und die grafische Umsetzung wurden auf der Zukunftswerkstatt ebenfalls vorgestellt. Zudem wurden erste Anregungen zu unterschiedlichsten Aktionsformen dargestellt, mit denen die Kolleginnen und Kollegen die Tarifverhandlungen im nächsten Jahr aktiv unterstützen können.
Vor uns liegen spannende Herausforderungen, die uns als EVG fordern aber auch prägen werden – in dieser Einschätzung waren sich alle Teilnehmenden der jüngsten Zukunftswerkstatt einig.